„Sexskandal“ in der US-Armee

Jede zehnte Soldatin in den USA gibt an, Opfer sexueller Übergriffe von Vorgesetzten oder Kollegen geworden zu sein. Das Problem liegt da, wo es niemand sucht: In der Struktur der Armee  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Die Fernsehspots verheißen Aufstieg und Abenteuer. High- Tech-Training, Teamgeist, Courage, Patriotismus. „Be all You can be“ heißt der Werbeslogan der US-Army. „Sei alles, was du sein kannst.“

Für unantastbar hielt sich offenbar Sergeant Delmar S., Ausbilder in einem Heeresstützpunkt in Aberdeen im Bundesstaat Maryland. „Wenn irgend jemand etwas rauskriegt, bring ich dich um“, soll er laut Anklage zu einer Rekrutin gesagt haben. „Ich schlage dir die Zähne aus – und keiner kann mir was“, soll er einer anderen gedroht haben. Der Sergeant sitzt inzwischen in Untersuchungshaft und sieht einem Kriegsgerichtsverfahren entgegen. Die Anklage lautet auf Vergewaltigung in neun Fällen sowie Morddrohungen gegen seine Opfer. Sein Vorgesetzter, Captain Derrick R., ist ebenfalls wegen Vergewaltigung angeklagt. Einem dritten Ausbilder wird wegen Bedrohung von Rekrutinnen der Prozeß gemacht. 15 weitere sind zum Schreibtischdienst versetzt worden. Die US-Armee ist wieder einmal mit dem konfrontiert, was die amerikanische Presse fälschlicherweise einen „Sexskandal“ nennt. Gemeint sind Gewalt und sexuelle Belästigung von Frauen in der Armee.

Dieses Mal betrifft es das Heer, das sich im Unterschied zur Marine bislang rühmte, keine nennenswerten Probleme mit Sexismus und sexueller Gewalt in den eigenen Rängen zu haben. Die US- Navy war 1991 durch den sogenannten „Tailhook“-Skandal in die Schlagzeilen geraten, nachdem öffentlich geworden war, daß Marineflieger bei einem jährlichen Zusammentreffen unter den Augen von Generälen abwechselnd Pornos konsumierten und Soldatinnen in „Spießrutenläufen“ die Kleider vom Leibe rissen und an die Geschlechtsteile griffen.

„Sensibilitätstraining“, striktere Definitionen von sexueller Belästigung sowie Informationskurse für RekrutInnen sind seither die Regel in allen Teilen des Militärs. Doch eine Umfrage des Pentagon aus dem letzten Jahr ergab, daß Sexismus und Gewalt gegen Frauen gerade im Heer weit verbreitet sind: Jede zehnte der 66.000 Soldatinnen der US-Army gab an, Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein. 60 Prozent erklärten, sexuell belästigt worden zu sein.

Ermittler haben inzwischen mit der Befragung von über 1.000 Frauen begonnen, die seit Januar 1995 das Ausbildungslager in Aberdeen durchlaufen haben. Darüber hinaus richtete die Army am letzten Donnerstag eine Telefonleitung ein, über die ehemalige und gegenwärtige Rekrutinnen Klagen vorbringen können. In den ersten fünf Tagen wurden über 1.600 Anrufe registriert. Seitdem sind 135 weitere Ermittlungen wegen Verdachts auf sexuelle Gewalt oder Belästigung eingeleitet worden. Unabhängig davon hat der für das Heer zuständige Staatssekretär im Pentagon eine Inspektion aller 17 Ausbildungszentren der Army angeordnet.

Das Problem dürfte vor allem dort zu finden sein, wo es eigentlich niemand suchen will – in der Struktur der Armee selbst. „Drill sergeants“ gelten nach allgemeiner Wahrnehmung als „gottähnliche Figuren“ für die jungen Neuankömmlinge. Sie haben die Aufgabe, aus „ungeschliffenen“ RekrutInnen „passable“ SoldatInnen zu machen, was mit einer Mischung aus physischem Drill, Einschüchterung, Erniedrigung und paternalistischer Fürsorge geschieht. Daß unter diesen Umständen einige Vorgesetzte auch Gewalt gegen Frauen als Bestandteil ihrer Allmacht ansehen, verwundert am allerwenigsten die Soldatinnen. „Das passiert hier einfach“, erklärte eine 20jährige Rekrutin in Aberdeen, während ein Sergeant die Verhältnisse etwas drastischer beschrieb: „Solange man Männer und Frauen zusammen in der Einheit hat, gibt's Vorfälle. Wenn da eine neue Rekrutin kommt, fangen die Kerle an zu sabbern.“

Was allerdings nicht mehr so einfach passiert, sind Vertuschungsaktionen von seiten der Armeeführung. Letzte Woche gingen die Generäle von selbst an die Öffentlichkeit, allerdings in dem Glauben, daß man es „nicht mit einem größeren Problem“, sondern einem Einzelfall zu tun habe. Ein Irrtum, wie sich herausgestellt hat. Andrea Böhm