Zurück in der Zukunft

■ In Dresden präsentiert sich der Deutsche Gewerkschaftsbund hellwach und kommenden Aufgaben zugewandt. Die Delegierten plädieren für Marx und Markt Von Walter Jacobs

Zurück in der Zukunft

Eigentlich, so beginnt der Hamburger ÖTV-Sekretär Rolf Fritsch seinen Redebeitrag im Dresdener Kulturpalast, sei es ja „schade“, daß er nicht einen Teil seiner Redezeit abgeben könne. Sonst hätte Fritsch gern ein paar Minuten an Walter Riester abgetreten, der just zuvor in einem virtuosen Diskussionsbeitrag für die heißumstrittene Reform des Flächentarifvertrags plädiert hatte. Konzentriert verfolgen die rund 600 Delegierten den spannenden Streit zwischen dem IG-Metall-Vize und dem Münchener ÖTV-Sekretär Michael Wendl.

Im Saal sind längst die Zwiegespräche verstummt. Sie alle wissen aus ihrer gewerkschaftlichen Praxis um die Brisanz des Themas, sie ahnen die gewaltigen Veränderungen im Verhältnis zwischen den Tarifparteien, die bevorstehen, sollte die dramatische Erosion des Flächentarifvertrages wie bisher anhalten. Riester ist zugleich auch Vorsitzender der Antragskommission, die den ursprünglich sehr konsensual orientierten Entwurf des DGB-Programms in wesentlichen Fragen verändert und ihm eine neue, eher kämpferische Orientierung verpaßt hat. Er kämpft dagegen, daß selbst vorsichtige Schritte zur Öffnung und Flexibilisierung des Flächentarifvertrages abgeblockt werden.

Während der linke ÖTVler Wendl die geforderte Aufnahme von betrieblichen „Wahlmöglichkeiten“ bei der Ausgestaltung von Tarifverträgen als ein „Signal für den Ausstieg“ aus den Flächentarifverträgen wertet, will Riester gerade mit betrieblichen Regelungen die weitere Erosion stoppen.

Ob das gelingt, da sind sich selbst die Befürworter nicht ganz sicher. Aber wer nur die „Fahne des Flächentarifvertrages hochalte“, so der Dortmunder IG-Metall-Vorsitzende Harald Schartau, werde beim Zurückblicken möglicherweise bald erkennen, „daß keiner mehr hinter der Fahne herläuft“.

Eindringlich appelliert der Hamburger Rolf Fritsch an die Delegierten, nicht die Augen davor zu verschließen, daß in weiten Bereichen die herkömmliche Bindungswirkung von Tarifverträgen und damit der Schutz der Beschäftigten längst unterlaufen wird. Im Hamburger Hafen etwa seien höchstens noch 50 Prozent der Unternehmen tarifgebunden. Wenn der DGB und seine Gewerkschaften darauf nicht reagierten, dann, so der ÖTV-Mann, „lassen wir unsere Betriebsräte im Stich“. Nach gut zwei Stunden spannender Debatte folgt die Mehrheit der Delegierten Riester & Co., auch wenn viele zwischen den Argumenten aus beiden Lagern hin- und hergerissen sind. Während die einen hoffen, über diese Reformen verbindliche Mindestbedingungen für die abhängig Beschäftigten retten zu können, erwarten andere eine Forcierung der Abwärtsspirale.

Nein, in Dresden ist die deutsche Gewerkschaftsbewegung nicht der Gefahr erlegen, „im Pragmatismus zu versinken“. Davor hatte die HBV-Delegierte Franziska Wiethild noch zu Beginn des Kongresses gewarnt. Im Gegenteil, der DGB präsentierte sich als hellwache Organisation, getragen von Menschen, die gewillt sind, Erreichtes zu verteidigen und Neues zu gestalten.

Gestern mittag stand der argumentative Streit um die Programmpassagen zur sozialen Marktwirtschaft zwar noch bevor, aber es schien sicher, daß die schlichte, unhistorische Lobpreisung der sozialen Marktwirtschaft im Programm – „besser geeignet als andere Wirtschaftsordnungen, die Ziele der Gewerkschaften zu erreichen“ – keine Gnade vor den Delegierten finden würde. Eine Mehrheit für die Formulierung der Antragskommission deutete sich an: „Die sozial regulierte Marktwirtschaft bedeutet gegenüber einem ungebändigten Kapitalismus einen großen historischen Fortschritt“, heißt da, doch diese Ordnung sei „keineswegs stabil und für alle Zeiten gesichert“.

Für die Sicherung dieser regulierten Marktwirtschaft will der DGB streiten, wobei im Vergleich zum Entwurf in vielen Formulierungen eine Prise Marx beim Bekenntnis zum Markt zu spüren ist. Einen klaren Trennungsstrich zieht der DGB zu totalitären Politikmodellen – zu den braunen ebenso wie zu den rotlackierten.

Einigen ostdeutschen Delegierten stieß vor allem diese Passage sauer auf. „Freie Gewerkschaftsbewegung und politische Diktatur sind unvereinbare Gegensätze“, heißt es darin. Und weiter: „Dem Verbot und der Auflösung der Gewerkschaften durch die faschistische Diktatur folgte im Osten Deutschlands nach 1945 der Mißbrauch der Gewerkschaften als Transmissionsriemen der Staatspartei und ihre Integration in ein System der Entrechtung und Unterdrückung.“ Mit „Entsetzen und Enttäuschung“ habe sie von dieser Formulierung Kenntnis genommen, sagte etwa die Leipziger Pädagogin Eva-Maria Stange. Sie sah durch diese Passagen gleich Millionen Mitglieder der früheren DDR- Gewerkschaften nachträglich als „Verbrecher“ diffamiert. Doch der Kongreß hielt an der Kernaussage fest. Man wolle „auf keinen Fall eine Gleichsetzung des faschistischen Systems mit dem DDR-Regime“, sagte Walter Riester, aber der „unvereinbare Gegensatz“, der zwischen freien Gewerkschaften und kommunistischen Diktaturen bestehe, müsse ebenfalls benannt werden.