■ Heute will der Europarat in Straßburg die umstrittene „Menschenrechtskonvention zur Bioethik“ beschließen
: Kein Freibrief für Eingriffe

Zitternde Hände, Depressivität und ein starrer Gesichtsausdruck, der nicht einmal ein Lächeln zuläßt – Kennzeichen der Parkinsonschen Krankheit, für die es bislang keine wirksame Therapie gab. Doch in Schweden oder Rußland wird auch deutschen Patienten Hilfe angeboten: Teile des Hirns werden mit aus Schwangerschaftsabbrüchen „gewonnenem“ Fötalgewebe aufgefrischt.

In Deutschland aktuell nicht möglich, suchen Eltern mit Hilfe der Präimplantationsdiagnostik (PID) in Belgien Klarheit über mutmaßliche Krankheiten des Embryos. Möglich wird mit der PID aber auch eine vereinfachte Geschlechtswahl, ja sogar ein vorgeburtliches „Schönheitsdesign“ am Kind. Beide medizinische Eingriffe sind hierzulande umstritten, ihre Durchführung erschwert. Andere Länder, andere Sitten?

Nach zehnjähriger Debatte ist jetzt über die europäische „Menschenrechtskonvention zur Bioethik“ zu befinden, die für viele der 40 Mitgliedsstaaten des Europarates erstmals Standards bei Organtransplantationen, Embryonenforschung, genetischen Eingriffen beim Menschen und der Genanalyse vorschreibt. Doch hierzulande protestieren Kirchen und Sozialverbände gegen den Text, reden Abgeordnete gegen „eine Entwertung von Leben wie seit der Nazizeit nicht mehr“ (Robert Antretter, SPD-MdB). Befürchtet wird eine Unterhöhlung rechtlicher und ethischer Standards der Biomedizin. Angesichts unterschiedlicher kultureller Identitäten der Länder des Europarates – von Finnland bis zur Türkei, von Spanien bis Rußland – kann eine Harmonisierung nur auf der Ebene des kleinsten gemeinsamen Nenners erfolgen. Drängen einzelne Staaten auf weitergehende Positionen, bleibt ihnen dies unbenommen. Die Konvention ist also kein Freibrief für hierzulande umstrittene Eingriffe.

Fraglos bedeuteten die ersten, inzwischen überholten Entwürfe der Bioethik-Konvention einen großen Rückschritt hinter den hiesigen Diskussionsstand. Die Verteidigung erreichter Standards und eine in Einzelfragen weiterhin berechtigte Kritik am Konventionstext sind wichtig. Doch diese Kritik steht am Scheideweg: So wichtig das Einklagen ethischer Standards in einer Zeit ist, in der Krankheit und Behinderung hauptsächlich als „Kostenproblem“ diskutiert werden, so leicht kippt die Argumentation in die Beschwörung allzu einfach gestrickter Feindbilder um. Gilt es die europäische Konvention abzuwehren, so treten die Widersprüchlichkeiten des deutschen Rechts auch bei kritischen Geistern aus Kirchen und links-alternativem Milieu in den Hintergrund.

Fraglos ist es problematisch, daß die Konvention die Forschung mit Embryonen, die aus künstlicher Befruchtung stammen, nicht generell verbietet. Warum aber preist die in der „Grafenecker Erklärung zur Bioethik“ versammelte Kritikerriege, hierzulande bestünde „ein Verbot der Forschung an lebensfähigen menschlichen Embryonen“? Der juristische Standardkommentar zum Embryonenrecht belehrt sie eines Besseren: „Das geltende Strafrecht schützt den Embryo zwar in seiner Frühphase, nicht aber (...) den legal oder illegal mittels Schwangerschaftsabbruch ,gewonnenen‘ noch lebenden Embryo. Kein Strafgesetz verbietet verbrauchende Experimente oder kommerziellen Handel mit lebenden Embryonen dieser Entwicklungsstufe.“ Die Debatte über ethische Grenzen der Nutzung von Föten als medizinischem „Rohstoff“ hat hierzulande erst begonnen.

Auch andere Vorwürfe gegen den Konventionstext gehen fehl, wenn die Bundesrepublik gleichzeitig als „Musterland“ verantwortungsvollen Umgangs mit der Thematik beschworen wird. Bei Forschungseingriffen an „Nichteinwilligungsfähigen“ kann bei Unterzeichnung der Konvention sogar die bislang mögliche Arzneimittelerprobung an Minderjährigen nicht mehr fortgesetzt werden. Die Konvention bedeutet auch eine Chance, Widersprüche in der hiesigen Bio-Politik neu zu diskutieren. Illusorisch ist es aber, Ansinnen, die hierzulande nicht durchsetzbar waren, als europäischen Maßstab einzufordern.

Noch problematischer ist der Duktus der öffentlichen Bioethik- Debatte, der durch ein Auseinanderfallen zwischen der Rhetorik hehrer moralischer Ansprüche und einer gegenläufigen Alltagspraxis geprägt ist. Zeit-Redakteur Jörg Blech bringt diese Geisteshaltung am Beispiel der PID ungewollt auf den Punkt: „Schon jetzt allerdings nutzen manche Deutsche die liberalen Gesetze etwa in Belgien und unterziehen sich dort einer sogenannten Präimplantationsdiagnostik. Was bei uns noch verboten ist, erlaubt dort Aufschluß über mögliche Genfehler beim Embryo. Ist diese Suche nach Hilfe so verwerflich und mit dem Wort vom ,Medizintourismus‘ abzutun?“ Vorgeburtliche Diagnostik wird als Ausdruck wachsender Behindertenfeindlichkeit zwar gescholten, gleichzeitig soll aber ein Tor offen bleiben, für eigenen Bedarf eine solche Untersuchung – bei entsprechendem Portemonnaie – im Ausland durchzuführen. Längst besteht ein regelrechter „Fortpflanzungstourismus“ nach Italien, Belgien oder Osteuropa, wo hierzulande umstrittene Verfahren angewendet werden.

Wer angesichts langer Wartezeiten auf Organtransplantationen sein Leben nicht auf der Warteliste für Organspenden beenden will, kauft sich Organe für 40.000 Mark in Tschechien oder Rußland. Solang die Kritik an der Biomedizin diese Schlupflöcher unberücksichtigt läßt, beteiligt sie sich faktisch an der Entstehung einer Zweiklassenmedizin, weil finanzkräftige Patienten sich hier umstrittene Gesundheitsdienste im Ausland besorgen können. Der „Konkurrenzdruck“ bei der Forschung und die Internationalisierung medizinischer Angebote verlangen eine politische Regelung. Soll das Einklagen ethischer Standards in der Biomedizin nicht zu Lasten sozialer Gerechtigkeit erfolgen, gibt es keine Alternative zum mühsamen Weg der kleinen Schritte einer Harmonisierung des Rechts.

Die Bioethikdiskussion zeigt, daß die westliche „Menschenrechtskultur“ keineswegs durch eindeutige Ziele und Werte geprägt ist. Gerade bei den durch die Medizin aufgeworfenen Fragen nach Beginn, Verlängerung und Ende menschlichen Lebens sind unterschiedliche kulturelle und religiöse Traditionen prägend. Die Harmonisierung rechtlicher Normen muß daher auch Anerkennung der Vielgestaltigkeit der Traditionen beinhalten, ohne in einen Werterelativismus zu verfallen. Hierzu kann die Bioethik-Konvention einen Mosaikstein bilden. Harry Kunz