Die Augen starr nach vorn gerichtet

300.000 Hutu-Flüchtlinge haben bereits die Grenze nach Ruanda passiert. Die Hilfsorganisationen hatten sich vorbereitet – und sind dennoch völlig überfordert  ■ Von der zairisch-ruandischen Grenze Caroline Schmidt-Gross

An dem kleinen Grenzübergang Umubano zwischen Goma und Gisenyi passieren pro Stunde rund 15.000 Menschen den geöffneten Schlagbaum. Die Rückkehr der Hutu-Flüchtlinge von Ostzaire nach Ruanda ist seit Samstag morgen außer Kontrolle geraten, rund 300.000 sollen bereits gekommen sein.

Hier in Umubano war am Freitag noch Platz für Ruandas Präsident Pasteur Wisimungo. Er hieß die Heimkehrer über Mikrophon willkommen – und ließ ruandische Grenzbeamte in Zivil das Hab und Gut jedes einzelnen nach Waffen zu durchsuchen. Hutu-Milizen, die für den Genozid 1994 verantwortlich gemacht werden, sollten nicht einsickern können. Doch Kontrolle ist jetzt nicht mehr möglich. „Wir werden einfach überrannt“, sagt Ray Wilkinson, der Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks für die Region Gisenyi.

Die zweispurige Straße von der zairischen Stadt Sake quer durch Goma bis zur ruandischen Stadt Ruhangeri ist komplett blockiert. Auf einer Länge von rund 40 Kilometern laufen dicht aneinandergedrängt in gleichbleibendem Tempo, nicht langsam, aber auch nicht hastig, Hutu-Flüchtlinge gen Osten. Beinahe jeder trägt ein geschnürtes Bündel auf dem Kopf und hält einen leeren Wasserkanister in der Hand. Die meisten Frauen haben ein Baby auf dem Rücken, die etwas älteren Söhne und Töchter hängen am Rockzipfel oder werden hinterhergezogen. Ein junger Mann benutzt ein mit Decken und Matratzen bepacktes Fahrrad, andere transportieren mit einem Holzroller Kochgeschirr und Kinder.

Doch auch völlig überladene Autos und Kleinbusse – in einem haben sich 36 Insassen vors Gepäck gequetscht – versuchen, sich mittendrin dem Schrittempo der Menschen anzupassen. Trotz der Hunderttausenden, die unterwegs sind oder am Straßenrand rasten, um zu kochen oder ihre Kinder zu stillen, ist es weitgehend ruhig. Hin und wieder ist das erschöpfte Weinen der kleinsten Kinder zu hören. Nur bei einer Rast sprechen die Menschen miteinander. Ansonsten laufen die meisten stumm und beinahe apathisch, als hätte sie jemand aufgezogen, die Augen unter dem Gepäck auf ihrem Kopf starr nach vorne gerichtet.

„Sie wollen laufen, also lassen wir sie“, sagt Edzard Nebe, der Koordinator für das Transitcamp Nknira, rund 20 Kilometer von Gisenyi entfernt. Hier sollten eigentlich bei einer „kontrollierten Flucht“, sprich 15.000 Menschen pro Tag, ein Teil der Ankommenden mit dem Nötigsten ausgestattet werden. Doch jetzt haben sich in gemeinsamen Sitzungen Hilfsorganisationen und die örtliche Präfektur darauf geeinigt, die zurückkehrenden Hutu einfach nach Hause gehen zu lassen.

Viele haben es auch nicht weit. Rund die Hälfte der registrierten Flüchtlinge aus Ostzaire stammt aus dem Grenzdistrikt Gisenyi. Um die hungrigen und erschöpften Menschen auf ihrem Heimweg zu unterstützen, werden zwischen Gisenyi und Ruhanderi fünf sogenannte Ray-Stations aufgebaut. Hier steht jeweils ein Zelt für die medizinische Versorgung zur Verfügung, Wasser und Energiebisquits werden verteilt, Latrinen aufgestellt. „Die Menschen können rund 20 Kilometer am Tag laufen“, sagt Edzard Nebe, „es wird also gar nicht so lange dauern, bis alle wieder zu ihren Familien und Freunden zurückgekehrt sind.“

Der Plan der Hilfsorganisationen, den Grenzübergang am frühen Samstag nachmittag zu schließen, um die Koordination etwas besser in den Griff zu bekommen, wird gegen 16 Uhr von der ruandischen Regierung fallengelassen. Es ist einfach unmöglich. Gegen Abend steht über der Stadt Gisenyi eine leichte Rauchwolke, am Straßenrand entzünden die Flüchtlinge ein kleines Feuer, um eine warme Mahlzeit aus etwas Mais, Erbsen oder Blättern zu kochen.

Sämtliche internationalen Hilfsorganisationen hatten sich so sorgfältig auf den Tag X vorbereitet – doch jetzt heißt es nur noch reagieren. Jede Stunde kann sich wieder alles ändern. „Als schwacher Organisationspuffer dient das Camp direkt am Grenzübergang. Es kann etwa 40.000 Flüchtlinge aufnehmen“, so Edzard Nebe. Doch die Menschen haben sich längst unaufhaltsam über das ganze Lager und auch weit über die Hügel der angrenzenden Felder verteilt und niedergelassen.

UN-Energiekekse: Ein Brösel für zehn Pfennig

Eine ausreichende Versorgung der hungrigen Menschen ist beinahe aussichtslos. Viele stürzen sich auf Kartoffel- und Bohnenfelder in der Nähe des Lagers, um selbst noch die Wurzeln auszugraben. Gleichzeitig versuchen die Bewohner in den einfachen Vierteln am Rande der Stadt Goma, Kapital aus dem Leid der Flüchtlinge zu schlagen. Sie verkaufen Energiekekse des UN-Flüchtlingshilfswerkes, die etwa wie ein Leibniz-Keks aussehen, sogar in einzelne Stücke zerbröselt. Ein Sechstel des Kekses kostet umgerechnet zehn Pfennig, das können sich viele nicht leisten. Auch der Transport der schwächeren Menschen ist kaum möglich. Hin und wieder gelingt es einer Ambulanz im VW-Bus durchzukommen. Für beinahe zehn Kilometer gegen den Flüchtlingsstrom braucht der laut hupende Wagen etwa zwei Stunden. „Wir sind nur ein paarmal mit einem Lastwagen unterwegs gewesen“, sagt ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes. „Rund 40 Personen haben wir aufgesammelt, deren Füße waren krank oder sie waren hochschwanger, ernsthafte Fälle gab es kaum. Das Problem war nur, daß die Flüchtlinge jedesmal beinahe den Wagen gestürmt haben, jeder wollte mit.“ Ein ähnliches Bild bietet sich am Wegesrand, wenn Hilfsorganisationen Kekse verteilen oder Wasser ausgeben. Beinahe jedesmal steht ein Banjamulenge- Soldat daneben, um auf die drängenden Menschen mit einem Stock einzuschlagen. Sie sind nicht zurückzuhalten. Die meisten von ihnen haben seit über zehn Tagen nichts gegessen. Ein Ehepaar, beide 25 Jahre alt, mit drei kleinen Söhnen, berichtet, sie wären vor drei Wochen wegen der Kämpfe aus dem Lager Kibumba nach Mugunga geflohen. Dort wurden sie von den Hutu-Milizen festgehalten. „Sie haben uns bedroht und gesagt, falls wir planen, nach Hause zurückzukehren, würden sie uns töten, wenn sie Ruanda wiedererobert haben“, sagt Muhawe. „Aber jetzt haben wir keine Angst mehr.“

Die Berichte ähneln sich. Viele sagen: „Wenn wir schon sterben müssen, dann in Ruanda und nicht in Zaire.“ Doch warum haben sich die Menschen, die 1994 vor den Massakern in Ruanda nach Ostzaire geflohen waren, erst jetzt auf den Weg gemacht? Ein UN-Mitarbeiter, der nicht genannt werden will, erklärt, die Flüchtlinge seien von den Tutsi-Rebellen nach Hause geschickt worden. Am Donnerstag morgen war es den Banyamulenge gelungen, die Hutu-Milizen im Camp Mugunga in die Flucht zu schlagen. Jetzt verläuft die Front einige Kilometer vor der Stadt Sake. Hier hört auch die Schlange der Flüchtlinge auf. Ein Soldat der Tutsi-Rebellen verbietet das Weiterfahren.

Übertriebene Angaben zur Lage der Flüchtlinge?

Auch ein anderer Umstand erstaunt. Auch wenn die Hunderttausenden Hutu-Flüchtlinge in den letzten Tagen kaum etwas gegessen und getrunken haben, können die meisten von ihnen noch soviel Gepäck mitnehmen, wie andere Landbewohner etwa täglich zum Markt tragen. Viele tragen auch saubere und gewaschene Kleidung. Sie sind zwar erschöpft, aber bis auf wenige Ausnahmen machen sie nicht den Eindruck, als würden sie sofort zusammenbrechen. Sie scheinen nicht in Eile und rasten am Wegesrand, wenn sie eine Pause brauchen.

Und so sind an diesem Tag auch viele kritische Stimmen von Mitarbeitern verschiedener internationaler Hilfsorganisationen zu hören. Ein Mitarbeiter des UN- Flüchtlingshilfswerkes kritisiert die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“. Diese hätten in den vergangenen zwei Wochen völlig übertrieben mit ihren Angaben über den Zustand der Hutu- Flüchtlinge in Ostzaire. Jetzt kursieren neue unbestätigte Angaben über die Zahl der Toten. Demnach seien wahrscheinlich bei den Gefechten zwischen Tutsi-Rebellen und Hutu-Milizen sowie auf der Flucht zwischen 3.000 und 5.000 Menschen umgekommen.

Tatsache ist, daß das Flüchtlingslager Mugunga leer ist. Nur noch die Holzkonstruktionen der Hütten sind übriggeblieben. Müll, Papier, Bücher, Schuhe und Matratzen liegen verstreut herum, all das, was die Menschen nicht mitnehmen konnten. Leichen sind auf den ersten Blick nicht zu finden. Nur ein Toter ist in einer provisorischen Unterkunft zu entdecken, unter einer Decke liegt ein an den Händen gefesselter und erschossener Hutu-Milizionär. Seine Identität ist seinem Militärpaß zu entnehmen, der neben ihm zurückgelassen wurde.