Archaische Landschaft mit liegender Frau

Zerklüftete Felsen, durchbohrte Körper: Eine Ausstellung in Mannheim widmet sich dem britischen Bildhauer Henry Moore. Dabei verflüchtigt sich im Alter die Wiedererkennbarkeit der Figuren gegenüber der Abstraktion  ■ Von Gabriele Hoffmann

Die Aufregung um Henry Moores monumentale Skulpturen kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Wie war das damals in Stuttgart? 1961 entschloß sich die Landeshauptstadt, mit einer von Moores mächtigen weiblichen Figuren die Bundesgartenschau zu eröffnen. Man entschied sich für den Ankauf einer Gewandfigur – einer gemäßigt modernen Version in Bronze – und wies ihr einen Platz im Schloßgarten vor dem Landtagsgebäude zu. Doch die schwäbischen Flaneure hatten nur Augen für die normwidrigen Körperteile ihrer „Mariele“. Sechs Jahre stritt man sich um das Ärgernis im öffentlichen Raum, bis die „Liegende“ ihre vorläufige Ruhe abseits hinter dem Kunstgebäude fand. 1984 zur Eröffnung der Neuen Staatsgalerie wurde die geschmähte Figur dann rehabilitiert und auf der Terrasse des Neubaus auf den Sockel gehoben.

Auch die Henry-Moore-Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim verzichtet weitgehend auf Bronzen (bis auf den „Krieger“ und eine „Liegende Figur“ aus der eigenen Sammlung). Unter dem Motto „Ursprung und Vollendung“ lenkt sie den Blick auf die dem Bronzeguß vorausgehenden Gipsmodelle, die man bisher kaum zu Gesicht bekommen hat. Mit ihrer sorgfältig bearbeiteten und getönten Oberfläche sind sie die letzte Stufe in der Reihe der Vergrößerungen und Veränderungen einer ersten dreidimensionalen Form in der handgroßen Maquette. Parallel zu den Gipsfiguren läßt sich an Studienblättern und farbig ausgearbeiteten Zeichnungen Moores bildhauerisches Prinzip der Verschmelzung von Volumen und Raum in den Werkphasen von den frühen zwanziger bis in die achtziger Jahre verfolgen.

Zweiter Schwerpunkt der Mannheimer Ausstellung ist die Stein- und Holzskulptur des 1986 mit 88 Jahren verstorbenen, weltweit bekanntesten englischen Bildhauers. In den ersten 25 Jahren ging es Henry Moore um die Befreiung einer „signifikanten“ skulpturalen Form aus Holz- oder Steinblock. Kleine Tierplastiken, die der Bergarbeitersohn aus dem Kohlerevier von Yorkshire während seiner Studienzeit am Londoner Royal College of Art 1921/22 aus Buchsbaum und Marmor schnitt, zeigen sein Bemühen um eine Abstraktion, die man als von innen nach außen drängende Formenergie erlebt.

Noch bevor Moore 1923 in Paris Cézanne und Picasso als seine Lehrmeister entdeckte, hatten ihn die aztekischen Skulpturen im British Museum fasziniert: „Dort beschloß ich, daß es in meinem Werk keine ,Schönheit‘ geben sollte in dem Sinne, wie sie der Hellenismus und die Renaissance verstanden hatten.“ Häufige Stilwechsel bestimmen seine erste Schaffensphase. Die „Stehenden Akte mit gefalteten Händen“ in einer Pinselzeichnung von 1925 stehen Picassos nachkubistischem voluminösem Figurentypus nahe.

Drei Jahre später haben sie sich in arabeskenartig schwingende „Liegende Figuren“ verwandelt. Der Titel „Composition“ für eine weibliche Büste deutet Moores bildhauerisches Interesse an. Zwei mächtige Arme umschließen eine Körperhöhle, in der sich zwei Brüste begegnen – „beschnuppern“, sagt John Berger und spielt damit auf die in der Emanzipation vom anatomischen Vorbild gewonnene Befreiung für die Darstellung des Menschlichen an.

Eine unausschöpfliche Fundgrube für bildhauerische Ideen bietet sich für Henry Moore in den Formen der Natur an. Kiesel, Muscheln, Knochen und Tierschädel animieren ihn zu „Transformationszeichnungen“. Aber auch die durch Erosion entstandenen landschaftlichen Großformen prägen seinen Figurenstil. „Landschaftlicher Anthropomorphismus“ und „Biomorphismus“ sind die in Katalogtexten stets herbeizitierten Allgemeinbegriffe, die der Einfühlung in die vielschichtige bildhauerische Intention, wie sie die Mannheimer Ausstellung ermöglicht, eher im Wege stehen.

Die phänomenologische Ähnlichkeit des in gespannter Ruhe ausharrenden weiblichen Körpers mit der Morphologie einer in erdgeschichtlichen Zeiträumen geformten Landschaft ist nur eine der Konstanten in Moores plastischem und zeichnerischem Werk nach 1945. In der vorausgehenden Periode surrealistischer Experimente wird zum ersten Mal eine geschlossene Form durchbohrt mit dem klaren Ziel, Vorder- und Rückseite der Skulptur durch ein „Loch“ miteinander zu verbinden.

Schon vor der Unterbrechung durch den Zweiten Weltkrieg, an dem Moore als „offizieller Kriegskünstler“ teilnahm – in dieser Zeit entstanden seine berühmten Zeichnungen von Menschen, die in U-Bahn-Schächten Schutz vor deutschen Bombenangriffen suchten –, interessierte ihn das Problem der Verbindung von innerer und äußerer Form. Eine gegen den Umraum abgeschlossene Schale etwa, die in Mannheim zu sehen ist, birgt in ihrem inneren Hohlraum eine zweite Form. Schönstes Beispiel für das von Moore selbst humanistisch interpretierte Ergebnis dieser langen Reihe mit Formexperimenten ist das „Arbeitsmodell für aufrechte innere und äußere Form“ von 1951. Moores Interesse an Themen wie „Mutter und Kind“ oder „Familiengruppe“ zwingt ihn, für das Problem der gleichwertigen Behandlung von Volumen und Raum in einer plastischen Gesamtform nach Lösungen zu suchen, die in der Abstraktion ein „intensives Eigenleben“ entfalten.

Nach seiner Griechenlandreise 1951 tritt die „Bekleidete weibliche Figur“ zum ersten Mal auf. Mit ihrer Körpermasse und den fließenden Gewändern ist sie das klassische Gegenbild zu dem in zwei und drei ausgehöhlte Teile zerbrochenen Figurentypus, der wohl eher die eigenen Erfahrungen des Künstlers widerspiegelt. Wie ein zerklüfteter Fels reckt eine monumentale, aus einem einzigen Ulmenstamm geschnitzte „Liegende Figur“ (1959–1964) ihre monströsen Gliederstümpfe in den Raum. Andererseits wollte man in Mannheim das Schwergewicht auf den Wandel im Alter legen. So sind in einem Raum Holz- und Gipsskulpturen aus den siebziger und achtziger Jahren versammelt. Die Figur unter dem Aspekt der Wiedererkennbarkeit ist für Moore in dieser Zeit kaum noch Thema.

„Henry Moore – Ursprung und Vollendung“. Bis 12. Januar 1997, Kunsthalle Mannheim. Der Katalog kostet 49 DM