"Gegen die allmähliche Erstarrung"

■ Einar Schleef, der umstrittenste deutsche Theaterregisseur, im Gespräch über Individuum und Masse, Strawinski und das Oratorium, sein Schauspieldebüt in Bertolt Brechts "Puntila", das Berliner Ensemble,

taz: Das Ensemble Ihrer Inszenierung von Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ am Berliner Ensemble wird von der Theaterkritikerin Renate Klett in „Theater heute“ als „Wehrsportgruppe Schleef“ bezeichnet. Vorwürfe dieser Art dürften Ihnen nicht fremd sein bei Ihrer strammen, antipsychologischen Regie. Was hat es mit Ihren Schauspielerkollektiven auf sich?

Einar Schleef: Ich habe den antiken Chor wieder ins Theater eingeführt, weil die Basis einer Tragödie für mich das Verhältnis von Individuum und Masse ist. Ein Individuum kann sein jeweiliges Schicksal zwar bedauern, aber das ist nicht tragisch. Tragisch wird es erst dann, wenn der einzelne mit dem Gesetz der Masse konfrontiert wird.

Wer Masse auf der Bühne heutzutage in Frage stellt, müßte allerdings auch jede Aufführung von Beethovens Neunter Symphonie fragwürdig finden. Im Schauspiel wird die Masse sicher nicht gut gepflegt. Es ist ungewohnt, daß 15 Darsteller gemeinsam sprechen und agieren. Aber im Musiktheater gibt es regelmäßig Hunderte von Leuten, die am Abend zusammen spielen. Da gibt es auch Rhythmus, da hat auch nur einer den Taktstock, und den anderen bleibt die Individualität versagt. Das Verhältnis zwischen Individuum und Masse darf da ausgelebt werden, während im Sprechtheater genau das sanktioniert wird.

Was Ihnen vorgeworfen wird, ist also letztlich nichts anderes, als daß Sie sich das Recht herausnehmen, Sprache als Musik zu behandeln?

Ich sehe keinen Unterschied zwischen der Oper, dem Oratorium und Sprechtheater. Auch im Schauspiel kann man sich ja nicht individuell äußern. Es gibt einen Autor, der Texte vorgibt wie ein Komponist. In Versdramen ist das noch am deutlichsten, aber wie streng die Form ist, wird bei uns im Theater leider nicht vorgeführt, weil man bemüht ist, alles möglichst menschlich zu machen. Und mit erhobener Stimme zu sprechen ist dem Gesang ja ziemlich ähnlich. Man muß einen Raum füllen und mit ähnlichen Mitteln arbeiten.

Sollte man entsprechend dazu übergehen, das Schleef-Ensemble als Sprechorchester zu bezeichnen?

Meine Arbeit hat sehr viel mit dem Oratorium zu tun. Denken Sie doch einmal an den Übergang von der Oper zum Oratorium. Daß Händel in London auf Kostüme und Dekoration verzichtete und zu biblischen Stoffen zurückkehrte, wird oft so erklärt, daß er eben keinen großen Erfolg hatte und das nicht mehr bezahlen konnte. Fakt ist aber, daß die große Oper nichts mehr transportierte. Und das ist heute genauso. Die Künstler damals haben darauf reagiert, indem sie eine Geschichte folgerichtig und klar erzählten und sie immer wieder durch den Chor unterbrechen ließen.

Auch Strawinski hat diese Strecke des Oratoriums wieder aufgenommen. Nicht von ungefähr habe ich als 15jähriger alle Platten von Strawinski gesammelt. In seinen Chorwerken ist das Verhältnis von Individuum und Chor ungeheuer interessant. Aber diese eher klassischen und religiösen Werke von Strawinski werden heute ja gar nicht mehr aufgeführt. In dieser Art von Musik sah ich jedenfalls schon früh viel mehr Nährboden für künstlerischen Ausdruck als etwa in der Arbeit des Berliner Ensembles.

Diese Inszenierungen habe ich zwar auch gesehen und bewundert, aber formprägend war das andere. Im Berliner Ensemble war mir immer alles zu milieubetont. Da kam der alte Arbeiter in der grauen Jacke, hallihallo. Der kann im Oratorium nicht in der grauen Jacke über die Bühne schlumpen. Sondern dort muß ein Darsteller eine Figur ohne Kostüm präzisieren. Das ist, Entschuldigung, eine viel höhere Kunst.

Im „Puntila“ treten Sie selbst nun aber doch als Individuum in Erscheinung. Als Hauptdarsteller unterbrechen Sie häufig das Spiel und improvisieren. Machen Sie für sich eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß das einzelne Schicksal nur in Konfrontation mit dem Gesetz der Masse interessant wird?

Daß ich die Hauptrolle spiele, war eine Verlegenheitslösung. Ursprünglich war Martin Wuttke dafür vorgesehen, aber er hatte einen Unfall und war einen Monat krank, und die Inszenierung rutschte immer weiter nach hinten. Irgendwann war klar, daß er nicht mitspielen würde, und auch andere Schauspieler, an die wir gedacht hatten, standen nicht zur Verfügung. Also blieb doch nur, daß ich das selbst spiele, daß der Regisseur in seiner Terrorfunktion eben als Puntila auf die Bühne gestellt wird. Daraus folgte natürlich, daß die Inszenierung als solche dann leider keinen Regisseur hatte. Da stand niemand unten, der uns hätte kontrollieren können.

Was mißfällt Ihnen denn?

Die Chorszenen finde ich viel zu lasch. Das müßte alles noch disziplinierter sein.

Und die Improvisationen? Hätte es die auch gegeben, wenn Sie als Regisseur unten gestanden hätten?

Nein, das wäre eine ganz andere Inszenierung geworden. Daß ich hier auf Teufel komm raus improvisiere, hat sich natürlich auch daraus ergeben, daß ich als Schauspieler keine Erfahrung habe und manchmal einfach auf der Bühne stehe und den anderen zuhöre. Und dann muß ich eben sehen, wie ich wieder in meine Rolle hineinfinde.

Allerdings hat sich dabei gezeigt, daß Improvisieren durchaus ein Weg ist. Für den Zuschauer ist Theater doch mehr und mehr so eine Art Fernsehen, und ich finde, wir müssen in diesem Theater gegen die allmähliche Erstarrung vorgehen. Wir fahren ja immer den gleichen Parcours ab, und wenn es in einzelnen Vorstellungen nicht manchmal Hemmnisse gäbe, würden wir irgendwann überhaupt einschlafen. In Frankfurt war das allerdings auch mit unserer bisherigen Arbeit ganz anders. Viel spontaner.

Was ist am Berliner Publikum anders?

Es liegt nicht am Publikum, sondern an den Darstellern. Im Berliner Ensemble sind die inneren Strukturen ziemlich festgefahren. Wenn wir beim „Puntila“ beispielsweise eine Zugabe geben sollen, dann drehen die Schauspieler fast durch. Eine Zugabe, was ist denn eine Zugabe?!

Ein Teil des Ensembles hat viele Jahre mit mir gearbeitet, und trotzdem stehen dann auch die bedonnert auf der Bühne und wissen nicht, was sie machen sollen. Es wird aber allmählich besser. Selbst ältere Kollegen fangen an zu improvisieren, weil sie wissen, daß die Vorstellung sonst nicht weitergeht.

Eine noch strengere Form, aber doch Platz für Improvisationen – wie kann man sich das denn vorstellen?

Man müßte eine Form haben, die voll kontrolliert ist und auf ein Zeichen hin platzt. Das könnte ähnlich funktionieren wie die Kadenz im Konzert. Denn wenn man irgend etwas mit dem Theater erreichen will, muß man den Ereignischarakter wieder herstellen. Das ist mir hier in Berlin klar geworden.

Ist das Berliner Ensemble für Sie der ideale Ort, um ein solches Theater zu realisieren?

Mit diesen Schauspielern auf dieser kleinen Bühne? Ich weiß, daß man in dieser Richtung arbeiten muß, und auch andere Leute an diesem Theater wissen das. Aber wie das am Berliner Ensemble funktionieren soll, ist mir ein Rätsel.

Wollen Sie an ein anderes Theater gehen?

Das hängt davon ab, was man woanders machen könnte. Aber letztlich wird man ja überall gleichermaßen verbraten. Man ist immer als abhängig Arbeitender beschäftigt. Und die Intendanten sind ja auch überall mehr oder weniger Intendanten. Die Funktion löscht eben die Individualität aus. Und eine private Handschrift kann man nur noch daran erkennen, wie ein Intendant eine Querele oder eine Bedrohung umschifft. Daran zeigt sich dann, wie das Verhältnis zwischen Arbeiter und Herr ist. Das ist genauso wie im „Puntila“. Interview: Petra Kohse

Die nächsten Aufführungen von „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ von Bertolt Brecht mit Einar Schleef in der Hauptrolle finden von heute bis 24.November im Berliner Ensemble statt, täglich um 19 Uhr. Weitere Aufführungsserien sind geplant.