Geschichtsklitterung um DDR-Opposition

■ Wie eine Randgruppe zur exemplarischen Widerstandsgruppe befördert wird

Auf einer Beratung der „Initiative für unabhängige Gewerkschaften“ (IfUG) bemerkte ein Beschäftigter eines Druckereibetriebes im Januar 1990, alle Arbeiter wüßten doch, „daß der FDGB uns 40 Jahre lang beschissen hat“. Daran zweifelten auch die Gründer der IfUG nicht, als sie im Oktober 1989 ihren ersten Aufruf für von der SED unabhängige Gewerkschaften verfaßten. Auszüge aus diesen Aufruf verlas Heiner Müller auf der berühmten Demonstration am Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989.

Martin Janders kürzlich erschienenes Buch beschäftigt sich nun ausführlich mit der Entstehung, der Entwicklung und dem Scheitern der kurzlebigen IfUG. Er betont zu Recht, daß die IfUG im Herbst 1989 die einzige Gruppe war, die überhaupt das Projekt unabhängiger Gewerkschaften verfolgte. Dem Autor geht es in dem Buch allerdings nicht allein um die IfUG, sondern generell um die „Formierung und Krise der DDR- Opposition“. Die IfUG dient ihm dabei lediglich als exemplarischer Fall für das angebliche Scheitern der DDR-Opposition. Methodisch wäre dies ein einleuchtender Weg, wenn die IfUG tatsächlich ein Teil der DDR-Opposition gewesen wäre. Es bleibt aber das Geheimnis von Jander, warum ausgerechnet eine Gruppe, die sich erst im Oktober 1989 konstituierte und eine Randerscheinung blieb, als Fallbeispiel für die DDR-Opposition der achtziger Jahre dienen kann.

Dieses „Fallbeispiel“ wird auch durch den Hinweis nicht einleuchtender, daß einzelne Initiatoren der IfUG mit oppositionellen Gruppen in Verbindung standen. Die Geschichte dieser Bewegungen in den 70er und 80er Jahren skizziert er einleitend mit nicht immer treffsicheren Strichen. Verwirrend ist aber, daß Jander einerseits diese Opposition darstellt, andererseits aber behauptet, daß sich erst im Sommer/Herbst 1989 eine Opposition in der DDR herausbildete. Welchen Stellenwert haben für ihn eigentlich Gruppen wie etwa die „Initiative Frieden und Menschenrechte“, die es schon Jahre zuvor gab?

Janders widersprüchliche Argumentation scheint zwei Gründe zu haben. Zum einen muß er die Formierungsphase der DDR-Opposition auf 1989 ansetzen, um die IfUG überhaupt als exemplarischen Fall rechtfertigen zu können. Zum anderen verkennt er die Geschichte von Opposition in der DDR sehr gründlich.

Jander begreift die DDR als totalitär. Wenn er dies ernst meinen würde, dann dürfte er keinen Oppositionsbegriff verwenden, der an der Diktator und nicht an der Demokratie orientiert ist. Er müßte darüber hinaus – und diese Ebene blendet er völlig aus – nach widerständigen Handlungsstrategien und Verhaltensmustern unter solchen gesellschaftlichen Bedingungen fragen. Denn unter Berücksichtigung der Tatsache, daß ein totalitäres System totale Kritik zwangsläufig bedingt, ist doch offenkundig, daß etwa die in den achtziger Jahren von Teilen der DDR-Opposition problematisierte Menschenrechtsfrage das SED-System als solches in Frage stellte. Deshalb ist es auch abwegig, wenn Jander unterstellt: „Partei und Oppositionsgruppen hatten in dieser Phase der Entwicklung (vom Rücktritt Honeckers bis zur Maueröffnung, I.-S. K.) ein gemeinsames Problem. Ohne die Bereitschaft der Bevölkerung der DDR an einer Reform des Sozialismus [...] mitzuwirken, mußten ihre Vorstellungen ins Leere laufen.“ Die DDR-Opposition, so differenziert sie auch immer gewesen sein mag, hatte ja gerade zum Ziel, ein gesellschaftliches Gespräch in Gang zu setzen, ohne schon wieder fertige Rezepte präsentieren zu wollen (oder zu können).

Das ist ihr ohne Zweifel gelungen, auch wenn Jander erneut die Legende kolportiert, die SED hätte den „Dialog“ eröffnet. Erst als Tausende demonstrierten und Hunderttausende das Land verlassen hatten, versuchte sie zu retten, was zu retten war. Sie rettete zwar Milliarden und Seilschaften, aber das Wichtigste, der Staat und damit die Macht, ging ihr zum Glück verloren. Man kann nun tatsächlich darüber streiten, wer dazu welchen Beitrag leistete. Allerdings sollte man sich dabei nicht stets auf die Legende berufen, die DDR- Opposition wäre einseitig am Erhalt der DDR und am Sozialismus interessiert gewesen.

Sicherlich, es gab solche Gruppen und Personen. Aber es existierten eben auch andere Strömungen. Nur wer, wie es Jander andeutet, bedauert, daß die DDR- Opposition nicht einer einheitlichen Idee und identischen Zielvorstellung gefolgt ist, kann zu solchen Schlußfolgerungen gelangen. Denn tatsächlich waren oppositionelle Strömungen in der DDR heterogener und vor allem in der Bevölkerung weitaus stärker verankert, als gemeinhin angenommen wird. Daß bekannte Bürgerrechtler und Oppositionsgruppen nach 1990 nicht die politische Rolle spielten, die ihnen von einigen Beobachtern zugedacht worden war, überraschte mehr die Beobachter als die Betroffenen.

Kurzum: Der DDR-Opposition absprechen zu wollen, daß es sie überhaupt in nennenswertem Umfang vor dem Sommer/Herbst 1989 gegeben hätte, grenzt an neue Geschichtsklitterung. Ilko-Sascha Kowalczuk

Martin Jander: „Formierung und Krise der DDR-Opposition. Die ,Initiative für unabhängige Gewerkschaften‘ – Dissidenten zwischen Demokratie und Romantik“. Akademie Verlag, Berlin 1996, 269 Seiten, 98 DM