■ Kurt Scheels Lichtspiele
: Lean Production

David Leans „Brief Encounter“ (1946) bekommt im „Film Guide“ vier Sterne, die Höchstzahl: Also ich weiß nicht. So schön es ist, daß der „Halliwell“ nicht auf Prätention und Kunschtfilm abfährt, so eng ist oft seine Vorstellung davon, wie ein anständiger Film zu sein hat – anständig eben. Handwerklich sehr sorgfältig gemacht, die großartige Kamera Robert Kraskers, schwarzweiße Lichtspiele von der Qualität des „Dritten Manns“, aber „there's not a breathofair in it“, bemängelte Pauline Kael zu Recht, und aus amerikanischer Perspektive muß es in der Tat frustrierend sein, daß es zwischen den unsterblich Verliebten Celia Johnson und Trevor Howard zu nicht mehr als ein paar Küssen kommt: Beide sind verheiratet, aber nicht miteinander. Und als sie ihm, nach herzergreifendem und händeringendem Zögern, ins Apartment folgt, platzt dort sein Freund herein, und sie verschwindet über die Hintertreppe. Man hat den Eindruck, daß Noäl Coward, auf dessen Theaterstück der Film basiert, nicht nur die englischen Konventionen der 40er Jahre und eine sehr enge Form von Wohlanständigkeit beachtet, sondern als Schwuler geradezu mit Lust diesen Heteros die Suppe versalzt.

Der erste Film David Leans, dem die ARD gerade eine kleine Retro widmet, heißt „This Happy Breed“ (1944), und er hat mir viel besser gefallen, obwohl er künstlerisch gesehen an „Brief Encounter“ nicht heranreicht. Er erzählt die Geschichte einer Londoner Kleinbürgerfamilie zwischen 1919 und 1939. Die Themse aus der Vogelperspektive, eine Straße mit diesen süßen, aneinandergeklebten Häuschen und den schmalen Gärten dahinter, dann fliegt die Kamera durch ein Fenster ins Haus hinein, es ist leer, etwas verwahrlost, die Treppe hinab zur Eingangstür, die sich öffnet, und Robert Newton tritt herein. Er ist gerade aus dem Krieg zurückgekommen und zieht hier ein, mit seiner Frau (Celia Johnson), drei Kindern, seiner Mutter und der Schwägerin, und dann zeigt uns der Film, in diesen schönen frühen Farben, wie es bei englischen Kleinbürgern so zugeht.

Nicht viel anders als bei uns, die Tochter Queenie dünkt sich was Besseres, der Sohn schwärmt für den Sozialismus, mit dem Kriegskameraden von nebenan trinkt man beim Veteranentreffen einen über den Durst; Queenies Freund geht zur Marine, und sie lehnt seinen Antrag ab: Ich will nicht warten, sondern mein Leben genießen! Daß der verheiratete Mann, mit dem sie dann nach Frankreich durchbrennt, sie sitzenläßt, versteht sich von selbst, aber keine Sorge, unser treuer Mariner holt sie aus Froschland raus und verzeiht ihr, so sind wir Männer eben.

Und das soll nicht wohlanständig und konventionell sein? Doch, aber indem der Film diese Kleinbürger nicht überhöht, sie weder zum Salz der Erde macht noch zu abstoßenden Spießern, indem er, anders als „Brief Encounter“, kein bloßes Seelendrama erzählt und mit Rachmaninow herumfuchtelt, sondern mit Sympathie diese Familie beobachtet vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte – die Parade der aus dem Krieg zurückkehrenden Truppen; der nationale Streik, und alle Räder stehen still; Chamberlain in Downing Street, der „peace in our time“ verkündet, und die Menschen jubeln ihm zu –, indem der Film sich fürs Mobiliar und die Kleidung interessiert, die Tapeten und das Geschirr, die Sprache und die Manieren, dies alles sorgfältig beschreibt, führt er uns auf eine Zeitreise und zeigt uns eine glückliche Nation, oder jedenfalls das Bild, das sie von sich selber hat.

David Leans Porträt des englischen Kleinbürgertums ist liebenswürdig, vielleicht sogar geschönt, aber sicher keine schlichte Lüge, und ich habe es mit Faszination und ein wenig Neid betrachtet. Lean war zwar kein „flag waver“, aber das britische Thema hat ihn immer beschäftigt, von „Die Brücke am Kwai“ über „Lawrence of Arabia“ bis zu „A Passage to India“; Filme, die ich mag – „Lawrence“ ist ein Meisterwerk –, aber das Patriotische, auch wenn es bei Lean nicht nur affirmiert wird, ist dem deutschen Zuschauer fremd und irgendwie unangenehm. Denn unser Blick ist „postnational“, und die Kennzeichnung, etwas sei „typisch deutsch“, ist unser schärfstes Verdikt. Das ist nun einmal so, und darüber muß man nicht räsonnieren. Freilich sehen das die Engländer und die Amerikaner anders, und ich muß leider gestehen, daß es auch mich rührt, wenn in Ciminos „The Deer Hunter“ am Schluß in dieser zerbrechlichen Weise „God bless America“ gesungen wird. Aber mein Problembewußtsein wächst. Kurt Scheel