Weil sie mit anderen tanzte ...

Die mexikanische Justiz will Claudia Rodriguez als Mörderin verurteilen, weil sie den Mann erschoß, der sie vergewaltigen wollte  ■ Aus Mexiko Anne Huffschmidt

Es hätte ein vergnüglicher Abend werden können. Endlich mal wieder richtig ausgehen, die fünf Kinder beim Ehemann zu Hause lassen und tanzen gehen.

Erst hatte Claudia Rodriguez gar nicht gewollt, die Freundin Victoria hatte sie überreden müssen. Dann tanzt sie wie schon lange nicht mehr, die halbe Nacht durch, immer wieder mit einem anderen. Victorias Verlobter, Juan Manuel, aber wird langsam aufdringlich. Immer wieder baggert er sie an, obwohl Victoria danebensteht. Schließlich wird es ihr in der Bar zu eng, sie will nach Hause.

Im Morgengrauen laufen sie zu dritt zur U-Bahn. Juan Manuel will nicht einsehen, daß der Abend schon vorbei sein soll. Man könne ja für einen flotten Dreier in einem nahegelegenen Hotel Station machen, schlägt er vor. Victoria läuft entnervt vor. Für Claudia wird es immer schwieriger, sich den trunkenen Typ vom Leibe zu halten. Auf einer menschenleeren Fußgängerbrücke drängt er sie gegen das Geländer. Greift ihr in die Bluse, unter den Rock. Sie solle sich nicht so anstellen, lacht er ihr ins Gesicht, schließlich würden die Frauen bei allem Gezetere doch immer wieder bei ihm im Bett landen. Der Stoff reißt, sie wehrt sich nach Kräften. Aber er ist größer und schwerer. Über ihr hartnäckiges Nein gerät er in Rage. „Für was hältst du dich“, schreit er sie an und schubst sie wieder gegen das niedrige Eisengeländer. Panik steigt in ihr hoch. Sie zieht die Pistole hervor, die sie auf Anraten von Freunden kürzlich erstanden hatte. In der einen Hand hält sie die Waffe, mit der anderen versucht sie ihn wegzustoßen.

Der kleine Revolver aber macht keinen Eindruck auf ihn. „Mit so einem Scheiß erschreckst du mich nicht“, brüllt er und sperrt, wie zum Beweis, seinen Hosenlatz auf. Wedelt mit dem Schwanz und macht wieder Anstalten, sich auf sie zu stürzen. Da drückt Claudia ab. Als er neben ihr in sich zusammenfällt, bleibt sie bewegungslos stehen. Wie in Trance. Victoria kommt angerannt, mit ihr ein Polizist. „Als ich den sah, fühlte ich mich mit einem Mal erleichtert und in Sicherheit“, sagt Claudia später aus, „aber ich wurde festgenommen wie eine Verbrecherin.“

Zwei Stunden später stirbt Juan Manuel Cabreras auf dem Weg ins Hospital; die Ambulanz war vom Polizisten, der vollends mit der Verhaftung beschäftigt war, zu spät benachrichtigt worden. Seit jenem Tag, dem 3. Februar diesen Jahres, sitzt Claudia Rodriguez im Bezirksgefängnis von Texcoco, einem Vorort von Mexiko-Stadt, und wartet auf ihr Urteil. Die Anklage: vorsätzlicher Mord.

„Natürlich fühle ich mich als Sünderin. Niemand hat das Recht, einem anderen, und sei er auch noch so böse, das Leben wegzunehmen.“ Claudia ist, wie sie selber sagt, sehr katholisch. „Aber auch keiner hat das Recht, einen anderen gegen seinen Willen anzufassen.“ Sie ist zweifellos die prominenteste Insassin im Bezirksknast. Schon bei der Anmeldung scheinen alle zu wissen, wen die Besucherinnen sprechen wollen: „La Claudia“.

Claudia erzählt nicht zum ersten Mal ihre Geschichte. Dennoch ist sie nervös. „Ich habe die Waffe doch nicht gezogen, um ihn zu töten“, erklärt sie verzweifelt, „ich wollte ihn doch nur abschrecken!“ Der Schuß sei ein „Instinkt“ gewesen, „wie ihn wohl jeder hat, wenn er sein Leben verteidigen will“. Claudia versteht die Welt nicht mehr. Und die war für sie bis zu jenem Morgen noch vergleichsweise in Ordnung. „Sie hat sich immer durchgekämpft“, sagt Margarita Garcia von einer feministischen Rechtsberatung für arme Frauen, „vielleicht hat sie sich deshalb, anders als viele andere es tun würden, eben auch gewehrt.“

Zusammen mit sieben Brüdern ist die heute 30jährige in elenden Verhältnissen aufgewachsen. Schon als kleines Mädchen hat sie Süßigkeiten verkauft und fremde Böden geschrubbt. Nach der Grundschule wollte sie Sekretärin werden, statt dessen landete sie als Kassiererin in einer Metzgerei.

Mit 14 lernte sie den sanften Jorge kennen und beschloß, gegen den Widerstand der Mutter und Brüder, den 10 Jahre älteren Mann zu heiraten. Jetzt war es nicht mehr die eigene Familie, die sie drangsalierte, dafür aber ein halbes Dutzend eifersüchtig wachender Schwägerinnen. Claudia arbeitete wie eine Irre, gebar Kinder und kämpfte für eine unabhängige Existenz. Jahre später, als sie selber schon dreifache Mutter ist, kauft das junge Paar endlich ein Stückchen eigenes Land und stellt zunächst einfach ein Blechhüttchen drauf. Im vergangenen Jahr eröffnete Claudia ein kleines Schreibwarengeschäft und arbeitete nebenbei als Vertreterin.

Ein Lächeln huscht über ihr angespanntes Gesicht, wenn sie von ihrem Jorge spricht. „Wir führen eine moderne Ehe“, sagt sie stolz. Schon vor dem „Unfall“ habe er Windeln gewaschen und hungrige Mäuler versorgt und jeder konnte, wie eben auch sie an jenem Abend, auch mal problemlos seiner Wege ziehen. Tatsächlich gibt es für den schüchternen Mann, der seither jede Woche im Büro der feministischen Rechtsberaterin sitzt, gar keinen Zweifel an der Version seiner Frau. „Es ist gut, daß sie sich verteidigt hat“, sagt er tapfer und „irgendwie“ schaffe er es schon, sich neben der nächtlichen Arbeit ums Häuschen und die fünf Kinder zu kümmern. Viel Hilfe habe er bekommen, von Nachbarn und Freunden, „nur eine hat uns nicht geholfen: die mexikanische Justiz.“

Eine derjenigen, die sich mit Claudias Fall regelmäßig die Nächte um die Ohren schlagen, ist die junge Anwältin Ana Laura Magaloni. Gerade frisch von der Rechtsfakultät, hatte sie zusammen mit ihrer Schwester „einfach aus Empörung“ die Verteidigung Claudias übernommen. Dabei geht es ihr keinesfalls um die Rechtfertigung von Rache oder Selbstjustiz, sondern lediglich um die vom mexikanischen Strafrecht ausdrücklich vorgesehene präventive „Notwehr“ zur Verteidigung von Leib und Leben.

Doch das mexikanische Recht hat seine Tücken: So kann die Mindeststrafe von drei Jahren für Vergewaltigung im Bundesland Estado de México, dem Gerichtsort für den vorliegenden Fall, in eine Geldstrafe umgewandelt werden. „Mal angenommen, Claudia hätte sich nicht gewehrt“, rechnet die junge Juristin vor, „dann hätte das ihren Vergewaltiger möglicherweise nur 2.000 Pesos (umgerechnet etwa 500 Mark) gekostet.“ Die Verhinderung der Vergewaltigung aber soll, wenn es nach dem Willen der Staatsanwaltschaft geht, die Angeklagte 40 Jahre Gefängnis kosten; mindestens 10 bis 15 Jahre dürfte Claudia Rodriguez bei einem Schuldspruch – der für Ende diesen Jahres erwartet wird – hinter Gittern bleiben. Die Behörden sind offenbar fest entschlossen, ihre Mordthese um jeden Preis zu untermauern. Immer wieder konstatiert die Verteidigung „schlampigen bis skandalösen“ Umgang mit Beweismaterial: Ao wurde sowohl der Alkoholtest wie auch das Hemd des Toten – als Beweis dafür, daß der Schuß aus nächster Nähe abgefeuert wurde – verschlampt und auch die Hautreste unter Claudias Fingernägeln und ihre zerrissene Bluse sind nicht mehr aufzufinden.

Die einzige Augenzeugin Victoria, immerhin die Verlobte des Ermordeten, hatte die Aussage der Angeklagten „Punkt für Punkt“ bestätigt; fast ein halbes Jahr später präsentiert die Anklage jetzt zwei Zeugen, die im Morgennebel aus 70 Meter Entfernung beobachtet haben wollen, daß Claudia und Juan Manuel „nur gestritten“ hätten. Auch wenn die sexuelle Aggression mittlerweile als „so gut wie bewiesen“ gilt – Blutergüsse, zerrissene Kleider und Kratzspuren am Körper des Toten sprechen eine allzu deutliche Sprache –, ist das Hauptproblem, den zuständigen Richter von der Notsituation zu überzeugen.

Dies ist aber schwieriger denn je, seit ein Bundesrichter den detaillierten Antrag auf Fallenlassen der Anklage Mitte Juli mit der Begründung abgelehnt hatte, die Angeklagte hätte ihren Angreifer „vorsätzlich provoziert“, alle „Maßnahmen zur Vermeidung der Aggression unterlassen“ und schließlich die „aus einem Alkoholpegel resultierenden Vorteile“ kaltblütig ausgenutzt. „Wenn sie wirklich nichts mit dem Verstorbenen gewollt hätte, hätte sie sich wohl im geeigneten Moment entfernt“, heißt es in der richterlichen Schrift.

Diese Argumentation findet selbst der Staranwalt Rogelio Martinez, der die beiden unerfahrenen Anwältinnen seit neuestem gratis berät, schlicht „absurd“. Das hieße ja, daß „jede Frau, die an einem öffentlichen Platz belästigt wird und nicht weggeht, ihre spätere Vergewaltigung billigend in Kauf nimmt oder zumindest auf alle Notwehrrechte verzichtet“, sagt er und lehnt sich kopfschüttelnd im teuren Ledersessel zurück. Und Betrunkene könnten nach dieser Logik für keinerlei Straftaten mehr verantwortlich gemacht werden.

Für Martinez, der sich ansonsten eher mit Wirtschaftsdelikten der obersten paar Tausend – unter anderem auch der Familie des Ex- Präsidenten Salinas – beschäftigt, stellt der Fall eine „interessante Herausforderung“ dar. Im übrigen sei ziemlich klar, daß alle Bedingungen für die legitime Notwehr ausnahmslos erfüllt seien. Um das nicht zu sehen, meint der Anwalt in seiner holzgetäfelten Kanzlei zuversichtlich, müsse auf seiten des Gerichts schon ein „unwahrscheinlich extremer Machismo“ vorliegen. So wie im psychologischen Gutachten: Da wird die Gefährlichkeit der Angeklagten als „mittel“ bis „stark“ eingestuft und ihr sowohl „manipulierender Charakter“ wie auch „psychosexuelle Unreife“ und „ambivalente Gefühle gegenüber der männlichen Person“ bescheinigt.

So ist die Rechtsberaterin Margarita Garcia deutlich weniger optimistisch. „Bei solchen Vorurteilen gegenüber verheirateten Frauen, die nachts alleine in Tanzbars gehen“, sagt sie, „werden wir den Fall nicht so leicht gewinnen.“ Auch eine befreundete Juristin, die den Prozeß aus der Nähe beobachtet, hat wenig Vertrauen in das Funktionieren der mexikanischen Justiz. „Ohne öffentlichen Druck, vor allem aus dem Ausland, läuft hier gar nichts!“ Zumindest im Inland hat die Geschichte der Claudia Rodriguez längst Schlagzeilen gemacht. Als eine Art Fanal wirkte sie zunächst für die müdegewordenen Frauenbewegungen im Lande, die Unterschriftenlisten und Kundgebungen, Anzeigenkampagnen und Internet-Seiten organisierten. Die weibliche Wut ging weit über feministische Zirkel und parteipolitische Grenzen hinaus: In bislang wohl einzigartiger Geschlechtersolidarität unterschrieben – ausnahmslos alle – Politikerinnen aller Parteien in Senat und Parlament eine entsprechende Petition über „Claudias sofortige Freilassung“. Auch die Divas des mexikanischen Kulturbetriebs wie der ehemalige TV-Star Silvia Pinal und die Leinwandkönigin Maria Felix haben ihre berühmten Namen unter das Schreiben gesetzt. „Claudia ist unser aller Herz, unser aller Spiegel“, schrieb die Schriftstellerin Elene Poniatowska in dem ihr eigenen Pathos. „Erretten wir sie aus ihrem Alptraum, und retten wir uns selbst mit ihr!“ Diesem Engagement hat die bekannte Autorin eine Reihe „fieser Anrufe“ zu verdanken. „Was mischst du dich da ein“, krächzte ihr immer wieder eine anonyme Stimme entgegen.

Auch Anwältinnen und Familienangehörige mußten sich schon allerlei wüste Drohungen am Telefon anhören. Es heißt, die Familie des Toten verfüge über gute Verbindungen zu Polizei und Behörden. Manch eine hat sich davon einschüchtern lassen. „Ihren Hals riskieren möchte für Claudia heute kaum noch eine“, sagt Margarita Garcia heute bitter, ohnehin sei die mexikanische Frauenbewegung heute mehr mit der Gründung einer Frauenpartei als mit konkreter Solidarität beschäftigt.

Claudia staunt schon jetzt immer wieder über „all die wunderbare Hilfe“, die ihr von völlig unbekannten Frauen da draußen zuteil wird. „Von Feminismus und so verstehe ich ja nichts“, sagt sie. Aber es helfe, den Knastalltag zu überstehen. Über die Aussicht, vielleicht noch viele Jahre im Gefängnis zu verbringen, will sie gar nicht erst nachdenken. „Noch nie habe ich mich so sehr nach etwas gesehnt wie nach meiner Freiheit.“ Sie spricht immer leiser, kämpft mit den Tränen. „Wenn ich gewußt hätte, was da alles auf mich zukommt“, sagt sie schließlich, „dann hätte ich mich wohl vergewaltigen lassen.“

Szenenwechsel, an einer Ampel mitten in Mexiko-Stadt, genau sieben Monate nach jenem Februarmorgen: Ein Mann greift durch das Seitenfenster eines schicken Wagens und will dem Fahrer, einem hochstehenden Militär und Sicherheitsbeauftragten eines mächtigen Fernsehkonzerns, die Uhr vom Handgelenk rupfen. Dieser zückt die Pistole und erschießt den Dieb. Der Oberst wird zunächst festgenommen, verhört und keine 24 Stunden später wieder freigelassen – wegen „berechtigter Notwehr“.