Langsamer Tod der Kombinate

Serie „Industriestadt auf dem Prüfstand“ (Folge 6): Ostbetrieben in Westbesitz geht es oft schlecht. Besser fahren Firmen mit ausländischen Investoren  ■ Von H. Koch

Er sei kein Ganove, sagte der Geschäftsführer. Man werde auch nicht nach drei Jahren einfach wieder abhauen, versprachen die neuen Besitzer der traditionsreichen Ostberliner Elektro Apparate Werke (EAW) am 4. März 1993. Im Saal der Kongreßhalle am Alexanderplatz saß die Belegschaft und hörte das Bekenntnis, daß der industrielle Kern „ernsthaft aufrechterhalten“ werden solle.

Bislang ist die Geschäftsführung tatsächlich nicht getürmt. Doch MitarbeiterInnen der Verwaltung vermuten, daß der Heidelberger Bauunternehmer Roland Ernst im kommenden Jahr seine 49-Prozent-Beteiligung an der EAW-Industrieholding verkaufen wird. Die drei verbleibenden Gesellschafter (heute jeweils 17 Prozent) suchen dann händeringend einen neuen Investor. Und ob das, was von dem einstigen DDR-Renommierbetrieb übrig ist, noch als „industrieller Kern“ bezeichnet werden kann, darf man bezweifeln.

Während früher rund 8.500 Beschäftigte bei den EAW Berlin arbeiteten, sind der Holding heute weniger als 250 Leute unterstellt – 2,5 Prozent der ehemaligen Belegschaft. Aus dem früheren Großbetrieb ist eine mittelständische Firma geworden. Die beiden Töchter Relaistechnik GmbH und Elektronik GmbH beschäftigten jeweils 100 IngenieurInnen und ArbeiterInnen – wenig genug, um in den Genuß von Senatsförderung für kleine und mittlere Unternehmen kommen zu können.

Das Hauptwerk der EAW stand bis vor ein paar Jahren am Treptower Spreeufer nordwestlich der Elsenbrücke. An wenigen Orten in Berlin ist der schockartige Übergang von einem Gesellschaftssystem zum anderen, von der Industrie- zur Dienstleistungswirtschaft so greifbar wie hier. Strukturwandel, durchgesetzt mit Abrißbirne und Bulldozer: Das Werk wurde komplett abgerissen. Die vom Großinvestor Roland Ernst für rund 1,2 Milliarden Mark errichteten Bürotürme – werbewirksam „Treptowers“ genannt“ – sind nun fast fertig. Ab kommendem Jahr soll dort die Zentrale der Allianz- Versicherung einziehen.

Roland Ernst, der das Haus für die Galerie Lafayette in der Friedrichstraße errichtete und auch am Potsdamer Platz baut, war erpicht auf die EAW-Immobilie, bekam als unerwünschte Dreingabe von der Treuhand jedoch den Industriebetrieb dazu. Die Fabrikhallen standen dem Verwertungsinteresse des Immobilieninvestors entgegen. Deswegen mußten die Produktionsstätten weichen.

Norbert Wichary, Chef des EWA-Konzernbetriebsrates, faßt die Entwicklung in bildhafte Sprache: „Der Immobilienhai mußte die Kröte schlucken. Jetzt versucht er sie wieder herauszuwürgen.“ Der Prozeß des Ausschlachtens, Gesundschrumpfens, Verkaufens und Rationalisierens dauert noch an. Mit 1.150 Beschäftigten übernahm Roland Ernst die EAW von der Treuhand. 850 Arbeitplätze mußte er für drei Jahre garantieren. Die Zeit ist mittlerweile abgelaufen – daher die Befürchtung, daß der Immobilieninvestor nun das Weite sucht und den EAW- Torso sich selbst überläßt. Unlängst erfolgte ein weiterer Schritt des Abbaus: Das verkleinerte Schaltgerätewerk wurde in die verbliebene Tochterfirma Relaistechnik eingegliedert.

Der von der Baufirma Ernst durchgesetzte Druck zur Tertiärisierung, zur Umwandlung von Industrieflächen in Dienstleistungsstandorte, entbehrte allerdings nicht jeglicher Grundlage. „Die Produkte der EAW waren auf dem Westmarkt häufig nicht konkurrenzfähig“, sagt Betriebsrat Wichary. So war etwa der Computer P 8000, der in Ostberlin entwickelt worden war, im Vergleich zu entsprechenden Westmodellen schlicht zu langsam und zu teuer. Während der Apparat im sozialistischen Wirtschaftsgebiet 200.000 DDR-Mark kostete, war ein leistungsfähigerer 286-Personalcomputer im Westen für 3.000 Mark zu bekommen. Ohnehin verteidigten die etablierten Westfirmen ihren kapitalistischen Markt mit Zähnen und Klauen. Da galt es als naheliegende Lösung, die östlichen Produktionsstätten dem Erdboden gleichzumachen.

Glück im Unglück hatten die Überreste der EAW allerdings, weil es am anderen Ufer der Spree im Bezirk Lichtenberg eine weitere Betriebsstätte gibt, die bislang nicht dem Verwertungsdruck ausgesetzt ist. Dort sind die EAW Relaistechnik GmbH und die EAW Elektronik GmbH jetzt auf einem Gelände zusammengefaßt. Die finanziellen Verluste wurden reduziert. Nicht zuletzt stellte sich heraus, daß einige schon ältere EAW- Produkte durchaus weiterhin Abnehmer finden. Dazu gehören bestimmte Sorten leistungsfähiger Stromschalter für die Energieübertragung.

Außerdem entwickeln die IngenieurInnen neue Produkte der digitalen Schutztechnik. Das sind etwa Sicherungen für Hochspannungsleitungen, in die man elektronische Schaltkreise integriert. Damit, so hofft der Betriebsrat, werde man in Zukunft den Konkurrenten wie Siemens Marktanteile abjagen und Marktnischen besetzen können. Doch durch den Abbau an allen Ecken, die Reduzierung in der Entwicklung und die zu niedrigen Investitionen in neue Produkte und Maschinen nimmt die Innovation viel – vielleicht zu viel – Zeit in Anspruch. Die Belegschaft hätte sich gefreut, wenn ein Teil des Profits aus der Entwicklung des Treptowers Grundstücks – Hunderte von Millionen Mark – in den Betrieb gesteckt worden wäre anstatt in weitere Bauprojekte von Roland Ernst.

Das Schicksal der EAW ist kein Einzelfall. Von der Großindustrie in den Ostbezirken ist fast nichts mehr übrig. „Geblieben ist eine Rumpfgröße“, weiß Klaus Wosilowsky, Sprecher der Berliner Industriegewerkschaft Metall. Nach Gewerkschaftsangaben konnten von ehemals 118.000 Arbeitsplätzen in der Metall- und Elektroindustrie nur rund 20.000 erhalten werden. Und der Pfeil zeigt weiter abwärts. Die Ostunternehmen haben zur Vernichtung von 200.000 Industriearbeitsplätzen in der gesamten Stadt seit 1990 weit mehr als die Hälfte beigetragen.

Dabei zeichnet sich eine auffällige Tendenz ab. Einige Investoren aus Westdeutschland neigen dazu, die von der Treuhand gekauften Ostbetriebe bis auf das Existenzminimum zu reduzieren oder die scheinbar überflüssigen Kostgänger zu schließen. Besser geht es dagegen Firmen, die von ausländischen Investoren aus Italien, Großbritannien und Südkorea erworben wurden.

Einige Beispiele: Neben den EAW ist auch der Glühlampen- und Beleuchtungshersteller Narva ein Opfer von Immobiliengeschäften geworden. Nachdem der süddeutsche Bauunternehmer Erhard Härtl nicht weiterkam, entwickelt nun Roland Ernst im Auftrag der Bayrischen Hypothekenbank die Flächen an der Warschauer Brücke für Wohnungen, Büros und modernes Gewerbe. Von Narva (früher 5.000 Beschäftigte) hat nur der Minibetrieb „Gesellschaft für lichttechnische Erzeugnisse“ mit 70 Leuten überlebt, die Speziallampen herstellen. EAW und Narva hatten keine Chance, weil die Investoren sich nicht für die Industrie, sondern für die Immobilien interessierten.

Die Transformatorenfabrik Oberschöneweide (TRO) ist in den Abwicklungsstrudel des Investors AEG geraten, der seinerseits von Daimler-Benz liquidiert wird. Eine westdeutsche Trafofabrik der ehemaligen AEG überlebt, während TRO Ende 1996 vermutlich ersatzlos schließt. Die Produktion von Transformatoren in Oberschöneweide geht baden, weil Überkapazitäten auf dem Markt vorhanden sind und ein westdeutsches Konkurrenzunternehmen, das einst dem Käufer AEG selbst gehörte, den Vorzug erhielt.

Optimistischer dürfen dagegen die Belegschaften der Berlin Chemie AG, des ehemaligen Werkes für Fernsehelektronik und der Kabelwerke Oberspree (KWO), in die Zukunft blicken. Diese Betrieb wurden von ausländischen Investoren gekauft, die Industrieinteressen verfolgen. Die wollen sich mit den Ostberliner Werken eine Position im deutschen Markt sichern oder Osteuropa beliefern. Auch hier wurden die Arbeitsplätze kräftig reduziert, aber man erhält nennenswerte Größenordnungen aufrecht.

KWO (Investor: British Callendar Corporation BICC) will 1997 noch 670 Leute beschäfigten. Das Fernsehwerk in Oberschöneweide (Samsung, Südkorea) erhöht die Zahl der Arbeitsplätze auf über 1.000. Und die Berlin Chemie AG (Pharmakonzern Menarini, Italien) hat die Zusagen an die Treuhand übererfüllt und führt jetzt 1.185 ArbeiterInnen und IngenieurInnen auf den Lohnlisten. Freilich ist auch für diese Betriebe die Zukunft offen. Und nicht jeder Konzern von jenseits der Landesgrenzen hat eine glückliche Hand, wie das Beispiel der österreichischen Baufirma Maculan zeigte, die die Ingenieurhochbau Berlin in den Konkurs riß.

Außer den Malochern der Produktion wurden durch den Exitus der Kombinate auch Tausende von EntwicklerInnen und leitenden Angestellten arbeitslos. Viele von ihnen kratzten ein paar Mark zusammen, verschuldeten sich bis über beide Ohren und eröffneten aus dem Niedergang heraus eigene Betriebe. 190 von den rund 2.000 Ausgründungen Ostberlins sitzen in Adlershof, dem alt-neuen Wissenschafts- und Erfinderstadtteil. „Vielleicht zehn Prozent dieser Betriebe geht es ausgesprochen gut“, meint Klaus Däumichen, der für die Technologievermittlungsagentur arbeitet. Die haben mit aussichtsreichen Produkten auf dem Markt Fuß gefaßt.

Die Masse allerdings krepelt noch herum – vor allem wegen Kapitalmangels. Magere Zeiten mit halbleeren Auftragsbüchern lassen sich nur schwer überbrücken. „Außerdem werden sie hart bekämpft, wenn sie mit neuen Produkten auf dem Markt auftauchen“, weiß Berater Däumichen. Die Konkurrenz – Siemens ist da immer sehr agil – schläft nicht. Trotzdem: Die meisten würden überleben, meint Klaus Däumichen. Schließlich kämen pro Jahr etwa 1.000 Betriebe in den östlichen Bundesländern dazu. Allmählich entstehe ein Netzwerk mit gegenseitiger Unterstützung und wechselseitigen Auftragsbeziehungen.