Biederlichkeit und Aufmüpf

■ Zwischen Großstadtboheme und Provinzmuff: Eine Ausstellung erinnert an Marieluise Fleißer, die Pionierin von Ingolstadt. Heute wäre sie 95 geworden

„Fleischer? Naa, wüßt ich also im Augenblick net“, sagt die junge Frau an der Hotelrezeption in Ingolstadt, als ich mich nach Marieluise Fleißer erkundige, die wahrhaftig dort jahrzehntelang in unmittelbarer Nähe wohnte. Und daß die dritte Donaubrücke nun ausgerechnet nach der Frau mit den unanständigen Stücken und der Brecht-Nähe genannt werden soll, ist vielen auch nicht recht. Im Stadttheater soll eine Skulptur der Fleißer stehen. Die Dame an der Kasse kann nur Vermutungen anstellen: „Vielleicht da hinten?“ Katholische Provinz- und vormals Universitätsstadt, hier halten sich Stimmungen in den Gassen.

Am 22. November wäre Marieluise Fleißer 95 Jahre alt geworden. Das Stadtmuseum mit seiner Fleißer-Expertin Ingrid Eiden hat diesen Geburtstag zum Anlaß einer Ausstellung genommen. „Eine literarische Topographie“ wird die Orte neu zeigen und mit Texten der Fleißer konfrontieren, an denen sie immerhin 60 ihrer 72 Lebensjahre verbrachte. Das Geburtshaus in der Kupferstraße, in dem die Werkstatt des Schmiede- Vaters ist, steht fast unverändert da. Bis heute wohnt hier eine Halbschwester; hier hat der Vater das endgültige Hausverbot erteilt, nachdem sie mit den „Pionieren in Ingolstadt“ 1929 so große Wahrheit und Schande von jungen Leuten und ihren sexuellen Hingezogenheiten geschrieben hatte.

Die rückwärtige Veranda ist noch da, die sogenannte „Altane“, die die Fleißer zum literarischen Ort machte in den „Dreizehnjährigen“ und letztlich auch im „Fegefeuer in Ingolstadt“: die Clique der gleichzeitig bigotten und aufrichtigen, verstörten und altklugen, brutalen und hysterisch sensiblen jungen Leute, zu denen sie zählte und deren Erlebnisse sie nicht vergaß: „Wenn die Freiheit kommt in einer schönen Gestalt und über einem zusammenschlägt ...“

Die Brücke, die die leibhaftigen „Pioniere in Ingolstadt“ in den zwanziger Jahren über den Festungsgraben bauten, als junge Küstriner Ausleihsoldaten gewissermaßen, ist einfach auch noch da, aus Holz, den Blick freigebend auf Stadtwald, die Promenade. Die gerademal zwanzigjährige Hilde Körber spielte in der Berliner Uraufführung am Schiffbauerdamm 1929 die junge, verliebte, kratzbürstige, abservierte Berta, für die der letzte Stoffel von Mann immer noch den herrlichsten von allen bedeutet, um den sie wirbt mit jeder Unterwerfung – und der sie letztlich doch uninteressiert fallen läßt: „Den ganzen Tag muß ich mich schikanier'n lassen, bei den Weibern lass' ich mich aus. Das muß eine einsehen. Einen Fetzen muß man aus euch machen.“

Die Fleißer war eine lebende Provokation durch ihr Eingeständnis der Demütigungen und Niederlagen, die sie in ihrem persönlichen Leben herbeiführte und erlitt – und der Würde und der selbstironischen Kraft, die sie sich dabei erhielt. Im Tabakwarenladen ihres Mannes in der Theresienstraße1, heute eine schnieke eingerichtete Espresso-Bar, hat sie Jahrzehnte als Verkäuferin gearbeitet. Von den Nazis mit Schreibverbot belegt, von ihrem Mann mit Schreibverachtung. Die Ausstellung zeigt ihre handschriftliche Liste über die „Geschäftspflichten“, die sie zu erfüllen hat. „Die Kunden“, sagt sie, „haben mich nicht mögen, ich hätte drin gestanden wie eine Königin... Das hab' ich nicht gewußt!“

Viele Fotos zeigen die Sprachrevolutionärin später mit der Krankenkassenbrille, dem runden altjüngferlichen Hut, der immer festgehaltenen Handtasche: „Ich war gewohnt, daß ich mich nicht verriet. Ich war nicht erzogen, daß ich mich wehrte“, schrieb sie. Daraus entsprang diese irritierende Mixtur aus Biederlichkeit und Aufmüpf, aus genau gesetzten Worten der verletzenden Erfahrungen und gleichzeitig einer wachen Gewitztheit – eine Milieuwanderin zwischen der Berliner Boheme der frühen Dreißiger und der Provinzlerin, über die jede/r sich eine Überheblichkeit zutraut.

Die Ausstellung in Ingolstadt wird ihre bescheidenen Kleider zeigen, die Schwester hat sie aufbewahrt. Außerdem werden Stadtführungen durch Fleißers Ingolstadt angeboten. Ihre Werke – die Romane, die spröden Erzählungen und natürlich die Stücke, letztlich wieder das „Fegefeuer“ bei Maxim Gorki in Berlin – haben immer einen beunruhigenden, schmerzenden Charakter. Sie gehen nicht auf. Sie bringen zu keiner Ruhe... Sabine Zurmühl

„Fleißers Ingolstadt – eine literarische Topographie“. 22.11. bis 6.1. im Stadtmuseum Ingolstadt.

Heute, 23.30 im WDR: „Rückblende Marieluise Fleißer“ von Sabine Zurmühl