Regierungskrise vertagt

■ Mißbrauchs-Vorwürfe gegen Belgiens Vizepremier sind noch nicht stichhaltig

Brüssel (taz) – Die belgische Regierung kann noch einmal durchatmen. Die Parlamentskommission, die bis gestern morgen 17 Stunden lang über die Aufhebung der Immunität des stellvertretenden Regierungschefs beriet, verlangt weitere Beweise. Sie empfahl dem Parlament, den Kassationshof, das oberste belgische Gericht, zu beauftragen, die Vorwürfe gegen Di Rupo bis zum 9. Dezember auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen.

Anfang der Woche hatte die Staatsanwaltschaft von Brüssel die Aufhebung der parlamentarischen Immunität des Vizepremiers beantragt. Der 45jährige Sozialist soll vor mehr als acht Jahren sexuelle Kontakte zu einem damals 15jährigen gehabt haben. Doch die Beweislage ist dünn. Der heute 24jährige Hauptbelastungszeuge Olivier Trusgnach, der wegen Besitzes von Kinderpornos in Untersuchungshaft sitzt, war schon früher als Geschichtenerzähler aufgefallen. Nachdem er die Wohnung eines früheren Arbeitgebers ausgeräumt hatte, war er längere Zeit in London untergetaucht. Als er bei seiner Rückkehr nach Belgien festgenommen wurde, brüstete er sich mit Kontakten zu hochrangigen Politikern. Dabei sei auch der Name Di Rupo gefallen. Ähnlich sollen auch die Vorwürfe gegen den wallonischen Regionalminister Jean Pierre Grafé zustandegekommen sein.

Der Chefredakteur der konservativen Zeitung Standaard, der mit Detailkenntnissen aus Quellen der Staatsanwaltschaft bereits am Wochenende die Jagd auf Di Rupo eröffnet hat, will nun von weiteren Zeugen wissen. Diese seien auch der Staatsanwaltschaft bekannt, sie habe allerdings bisher darauf verzichtet, ihre Aussagen gegen Di Rupo zu benutzen.

Di Rupo bestreitet die Vorwürfe und fordert Aufklärung. Er wehrt sich vor allem dagegen, daß ihn einige Zeitungen und selbst Politiker wie der liberale Oppositionsführer Herman de Croo mit der Bande des Marc Dutroux in Verbindung bringen. Für einen solchen Zusammenhang hat auch die Staatsanwaltschaft offensichtlich keine Belege.

Aber seit vor einigen Monaten bekannt wurde, daß der Kinderschänder Dutroux aus Kreisen der Polizei und der Justiz gedeckt wurde, geht man davon aus, daß auch hohe Politiker ihre Hand im schmutzigen Spiel hatten. Bisher konnte die Justiz keine Namen nennen – um so bereitwilliger stürzen sich einige Medien nun auf Di Rupo. Der smarte Sozialist, Liebling der linken Medien, war vielen Konservativen schon lange ein Dorn im Auge. Er ist ein wichtiger Pfeiler der mühsam austarierten Mitte-Links-Koalition aus Sozialisten und sozial ausgerichteten Christdemokraten. Wenn Di Rupo stürzt, schlittert Belgien in eine Regierungskrise. Alois Berger