Das gewisse Ungewisse

Heute geht in Bremen das 3. Festival „Politik im Freien Theater“ zu Ende. Es ging um Petra Kelly und Gerd Bastian, die KZ-Kommandeuse Ilse Koch sowie Psychosekten, und Rolf Hochhuth durfte natürlich auch nicht fehlen  ■ Von Lore Kleinert

Bilder, an die man sich erinnert: der nackte, verkrümmte Rücken eines kleinen Mannes, der an einer Reckstange hängt. Die weißen Hände der KZ-Kommandeuse, wie sie die bösen Träume zu verscheuchen suchen. Ein großer, beweglicher Mund, aus dem wechselweise der General und die grüne Jeanne d'Arc, ein Polizist, ein schwarzer Soldat, die Bürgerrechtlerin und der Stasi-Spitzel sprechen.

Intensität stellt sich auf diesem 3. Festival „Politik im Freien Theater“ dann ein, wenn ein politisierter Mensch mit professionellen Mitteln einen Menschen darstellt. Aus dem Material der Geschichte und aus sich selbst, den eigenen Fragen, die schwer, den Gewißheiten, die manchmal schwerer zu ertragen sind. Was aber ist politisch gewiß, heute, 1996?

18 freie Theaterproduktionen aus ganz Deutschland hat die Bundeszentrale für politische Bildung nach Bremen eingeladen, um „politisch engagiertes Off-Theater“ zu sichten und mit vier Preisen in Höhe von insgesamt 40.000 Mark zu fördern. Verantwortlich für die Einladung und die Preisvergabe am heutigen Samstag ist eine fünfköpfige Jury, bestehend aus Wolf Bunge (46), dem Leiter der Freien Kammerspiele Magdeburg, der Hamburger Schauspielerin Rotraut de Neve (52), dem Theaterwissenschaftler und Gründer der Zeitschrift Theater heute, Henning Rischbieter (69), dem Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg, Siegfried Schiele (57), und dem Autor Michael Wildenhain (36).

Politische Gewißheit. Bei Raimund Hoghe ist es der Schmerz an der eigenen Existenz. Er bahnt dem Düsseldorfer Autor in seiner Produktion „Meinwärts“ den Weg zum Sänger Joseph Schmidt, dessen „Lied um die Welt“ ging und der 1933 als Jude durch halb Europa floh, bis er einsam starb. Hoghe, bis 1990 Dramaturg bei Pina Bausch, zwingt das Publikum in ein Ritual, in dem die Arien des Tenors, Briefe aidskranker Freunde, Ikonen von Lasker- Schüler und Celan mit eigenen Empfindungen und Beobachtungen zu einer Totenklage verschmelzen – und zugleich Widerspruch provozieren, weil diese Gleichsetzung nie aufgehen kann, außer in der äußersten Subjektität eines einzelnen Menschen.

Das Porträt eines anderen Menschen entwickelt die Hamburger Schauspielerin Gilla Cremer aus biographischem Material: Ilse Koch, nach dem Krieg als „Hexe von Buchenwald“ verurteilt. Virtuos skizziert Cremer Stationen im Leben der Goethe-Liebhaberin und Ehefrau des Buchenwald- Kommandanten; wie im Vexierbild treibt sie die junge, ehrgeizige Frau in den Körper der alten, verbitterten, die noch nach 22 Jahren Haft nichts gewußt haben wollte.

Wer Betroffenheitstheater erwartet, wenn Petra Kelly und Gerd Bastian zu Bühnenfiguren werden, wird von Barbara Englert aus Frankfurt/Main angenehm enttäuscht: Auch sie erschafft die „Primadonna“ unter „Schweren Helden“ aus dem Stoff ihrer eigenen Fragen, ihrer Kritik und ihrer Ironie, ohne sie kleinzumachen, und im fast kindlichen Spiel mit Uniform und Stiefeln, schwarzen und weißen Farben, den Stimmen der Toten und eigenen Erfindungen. Theater kann wachhalten, kann Leben und Geschichte einkreisen, auseinandernehmen und neu sortieren – kann politisch sein.

Für solche Suchbewegungen gibt es im freien Theater trotz allen Geldmangels mehr Zeit und Sorgfalt als anderswo. Wenn aber die Fragen fehlen, entsteht nur schlechteres Stadttheater. Beispiel 1: Rolf Hochhuths „Wessis in Weimar“ als Kniefall vor Hochhuth zu präsentieren, ist im 7. Jahr nach der Wende nur noch peinlich, auch wenn viele Besucher erleben durften, wie der persönliche Segen des Meisters auch noch die Diskussion vernebelte (Theater Links der Isar München). Beispiel 2: Die Entlarvung einer Psychosekte ist politisch korrekterweise zwar immer erwünscht, doch das allein genügt nicht für Theater, auch wenn die Theaterproduktion Punktum aus München ihre „Sofortige Erleuchtung inkl. MwSt“ von einem britischen Autor mit Selbsterfahrung bezog. Und die Gruppen aus dem Wilden Osten? Ihre Namen „Compagnie de Comédie“ (Rostock) und „Theater des Lachens“ (Frankfurt (Oder)) versprachen Heiteres, und wo steht geschrieben, daß politisches Theater schwergewichtig sein muß? Bunt war's dann auch, im „Turm“ und im „Kirschgarten“, bedeutungsvoll bis ins Detail und fast artistisch, doch im Kontext dieses Festivals wirkte die Beschäftigung mit Peter Weiss' Befreiungsparabel ebenso routiniert-beliebig wie das amüsante Zerpflücken von Tschechows Dornröschengarten. Möglicherweise steht dahinter ein Bezug zum je eigenen Publikum, dem diese Gruppen Räume öffnen wollen, aus ihrer völlig anderen Erfahrung mit Politik und Staat und Theater heraus, möglicherweise auch ein Nachholbedarf am Herumexperimentieren.

Daß Fragen wie diese mit den Theatermachern diskutiert werden können, ziert dieses Festival. Daß die Auswahl anders wäre, hätten andere sie getroffen, ist so richtig wie banal, doch bietet diese Auswahl so viele Facetten wie Reibungsflächen der Kritik, und das ist produktiv. Was also bleibt? Zumindest eine Produktion, Alfred Matusches „Regenwettermann“ des Ostberliner theaters 89, die den Streit in Bremen um die Ausstellung „Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941–44“ gespenstisch kommentiert, indem sie in ein polnisches Dorf am Vorabend des Rußlandfeldzugs führt und die richtige Geschichte erzählt. Und sonst? Ein verkrümmter Rücken, eine weiße Hand voller Furcht, ein großer Mund mit vielen Stimmen...