Das Auge sieht mehr Loch als Wand

Berliner Architektur im Fadenkreuz: Das vierte Jahrbuch der Architektenkammer ist erschienen  ■ Von Robert Kaltenbrunner

Vor einiger Zeit hat sich die Architektenkammer Berlin entschlossen, die laufende Stadtentwicklung – sozusagen als „Momentaufnahme der Gegenwart“ – mit einem Jahrbuch zu begleiten. Als 1992 der erste Band erschien, gaben noch bloße Anfänge, schwebende Verfahren und offenen Fragen den Ton an. Weder Alexanderplatz noch Pariser Platz waren damals als Thema virulent, und man hoffte noch auf Olympia.

Seitdem sind zwar eine ganze Reihe an Wettbewerben entschieden, Bauten hochgezogen und Großprojekte angeschoben worden. Aber die wirtschaftliche Krisenstimmung hat alles mit einem grauen Schleier überzogen. Berlin baue am finanziellen Abgrund, wie Harald Bodenschatz befindet. Die prekäre Haushaltslage ist seit Jahren bekannt, ohne daß die politische Führung aus dieser Situation Konsequenzen gezogen hätte: „Die für jeden sichtbare Stagnation der Nachfrage nach Büroflächen und Wohnungen wurde bagatellisiert, als vorübergehend deklariert und allen möglichen Schuldigen angelastet, nur nicht einer desorientierten Politik. Kein Wort über die Chancen der Ernüchterung, über die Notwendigkeit des Umdenkens, der planerischen Rücksichtnahme, des Rückbaus, des Sparens an der richtigen Stelle!“ Auch deswegen, so meint er, droht „der aktuelle Sparzwang in Berlin, als Geißel wirksam zu werden“. Daß diese Geißel nicht alles erschlägt, veranschaulicht das Jahrbuch 1996 auf zugleich nüchtern-distanzierte Weise – eine wohltuende Ergänzung zu reinen Fachpublikationen.

Die Gegend um das Brandenburger Tor ist dabei auch für die aktuelle Bestandsaufnahme von Belang. Schließlich liegt hier nicht nur Entrée und Salon der historischen Stadt, sondern auch der symbolgeladene Ort der Wiedervereinigung. „Zu Silvester saßen dort Tausende mit Sektflaschen und Sprühkerzen auf der Mauer auf der Lauer; Dutzende kletterten auf das Tor und hämmerten Brocken aus seinen Säulen. Glaubte die souveräne Kanaille etwa, das Ding sei stalinistische Architektur?“ So pointiert kommentiert Rudolf Stegers die Planungen am Pariser Platz. Das Fassadenkostüm des Hotel Adlon (Patschke/Klotz) ist seine Sache nicht, eher schon der Umgang mit Transparenz und Geschichte, den Behnisch beim Neubau der Akademie der Künste pflegt. Die Dresdner Bank von Gerkan und Marg liegt für ihn im Mittelfeld des Gediegenen („Wo sind wir: Am ehesten in den Dreißigern bei Art déco ohne Dekor.“)

Selbst ein Kleihues ist keineswegs sakrosankt: Die von ihm geplanten, unmittelbar an das Brandenburger Tor anschließenden Häuser Sommer und Liebermann haben „um der Rendite willen vier statt wie früher drei Geschosse. Die Zwillinge im Gewand aus Muschelkalk sind etwas höher und etwas schmaler als ihre Vorgänger. Das macht bei elf Achsen viele Fenster; das Auge sieht mehr Loch als Wand.“ Dabei ist Stegers Kritik sachbezogen, indem er manche der prämierten Entwürfe mit nachplazierten vergleicht: beispielsweise Hans Kollhoffs Geschäfts- und Wohnhaus der Dresdner Bank mit dem Vorschlag Roger Dieners, Frank Gehrys Deutsche Genossenschaftsbank mit dem Ansatz von Jo Coenen oder Bernhard Winkings Hanseatica-Bau mit dem Entwurf von Hilde Léon und Konrad Wohlhage. Gerade dieser zeige einen prägnanten und zukunftsweisenden Lösungsansatz; und „was die Juroren – typisch für Berlin – als ,zu dominant‘ bezeichneten, ist in Wahrheit der Versuch, Themata zu finden, statt Kodizes zu folgen“.

Die spezifische Qualität des Jahrbuchs liegt neben der Schärfe der Kritik auch im breiten Spektrum. Wichtig ist die gesamte gebaute Umwelt. Das reicht von Stadtplanung über Denkmalschutz bis hin zur Landschaftsgestaltung, von der alltäglichen Baulücke bis tief hinein in kulturhistorisches Terrain. Die Auswahl ist recht facettenreich: So beredt Wolfgang Kil „Die Legende als Lernmodell“ hinterfragt und damit eine kritische Aufarbeitung dessen bietet, was sich im Szenekiez Prenzlauer Berg so tut, so sehr verklärt Dieter Hoffmann-Axthelm die Hackeschen Höfe zum Prototyp einer revitalisierenden Stadtentwicklung. Werner Sewing wirft die Frage auf, inwieweit die „Spreestadt“ im Charlottenburger Spreebogen dem Menetekel der Londoner Docklands nacheifert, und kommt zu ernüchternden Ergebnissen. Claus Köpplinger verschreibt sich der Aufklärung, indem er „neuen Wohnformen am Stadtrand“ an vier Beispielen nachspürt, doch allenfalls fündig wird in bezug auf ansprechende Architektur. Wie wichtig die Entwicklung eines innerstädtischen Freiraumsystems ist, legt Almut Jirku unter dem programmatischen Titel „Grün verbindet“ dar. Als im Mai die neue SPD-Parteizentrale in der Wilhelmstraße eröffnet wurde, war ihr mediale Aufmerksamkeit sicher. Dem realisierten Entwurf von Helge Bofinger, der bereits 1981 im Rahmen der IBA einen entsprechenden Wettbewerb gewann, steht Rolf Lautenschläger alles andere als unkritisch gegenüber: „Es hätte einer neuen ,Baracke‘ durchaus größerer architektonischer Wagemut gut angestanden. Wo schon die Sozialdemokratische Partei auf der Stelle verharrt, hätte möglicherweise ein innovatives bauliches Symbol eine Zukunftsperspektive skizziert.“ Dennoch zieht er ein insgesamt positives Urteil über ein dem großstädtischen Maßstab verpflichtetes, durch Nutzungsvielfalt gekennzeichnetes und sinnvoll in den Kontext eingebettetes Gebäude.

In toto ist es um die „Architektur in Berlin“ mitnichten so gut bestellt. Gleichwohl sieht Kammerpräsident Cornelius Hertling den Patienten auf dem Weg zur Besserung: „Die Arbeiten der jungen Architekten zeigen, mehr als alle Worte es vermögen, die Qualität und Vielfältigkeit der modernen Architektur auch unter den gegenwärtig schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen, daß [sie] nicht den Mut verloren haben und nicht in die von mancher politischer Seite propagierte Scheinwelt geflüchtet sind.“ Zu sehen ist davon allerdings wenig. Doch womöglich ist der Blick bloß verstellt durch „Bauten im Sinne der gemäßigten Berliner Traufhöhen-Spätmoderne“ (B. Hotze). Der Satz von Karl Scheffler, demzufolge Berlin nicht mit Anmut und Geschmack in die Landschaft gebaut sei, wird neu zu widerlegen sein.

„Architektur in Berlin, Jahrbuch 1996“. Hrsg. von der Architektenkammer Berlin (Redaktion: Lothar Juckel). Junius Verlag, Hamburg 1996, 176 S., 180 Abb., 68 DM