■ Buchtip
: Istanbul als Alptraum

Kaum vorstellbar, Yașar Kemal, der Autor der vierbändigen Memed-Saga, der Anwalt der Bauern ohne Land, hat einen Großstadtroman geschrieben. Statt auf den Bergen und Hängen des Taurus, statt auf den Baumwollfeldern der Çukurova tummeln sich seine Gestalten, Selim, der Fischer, und Zeynel, der Mörder, mit ihren Freunden, Kameraden und Geliebten, in Beyoglu, am Goldenen Horn oder auf dem Bazar und entfliehen ihren Verfolgern nicht in unzugängliche Gebirgsschluchten und Höhlen, sondern in Hafenkaschemmen, Bordelle und zwielichtige Cafés.

Aber die Strukturen der bäuerlichen Gesellschaft gelten in modifizierter Form auch für die Fischer von Menekșe, einen Vorort der ausufernden Millionenstadt, oder die Straßenjungen von Eminönü und Galatasaray. Mitgefühl und Solidarität auf der einen, Feindschaft und erbitterter Haß auf der anderen Seite gelten im ländlichen Südosten der Türkei wie am Taksim-Platz oder in Üsküdar, aber in der Metropole Istanbul erhalten diese Gefühle, diese Beziehungen zwischen den Menschen, fast durchweg Deklassierte, eine andere Dimension, die jenseits der Moralvorstellungen von Bauern, Landarbeitern und selbst Großgrundbesitzern liegt. Begriffe wie männliche Ehre und weibliche Keuschheit lösen sich auf, gehen in einem Taumel von Geldgier und Machtgelüsten unter.

In „Zorn des Meeres“ töten die Fischer die Delphine des Marmara-Meeres, um Tran zu gewinnen, unendliche Mengen von Tran, um sie zu Geld zu machen, zu endlichen Bergen von Geld allerdings, da sie sich – und dem Meer – mit ihrem rauschhaften Abschießen der Tiere die Lebensgrundlage entziehen. Selbst Selim, der einsame Fischer, dem eine Delphinfamilie ans Herz gewachsen ist, Selim, der schier umkommen will vor Trauer um seine freundlich-spielerischen Säugetiere, selbst er besorgt sich eine Waffe, um sich am Abschlachten dessen, was er liebt, zu beteiligen. Mit dieser Figur des einsam träumenden Fischers ist Kemal eine psychologische Studie gelungen, die nicht nur die Komplexität einer Person zeigt, sondern auch das Scheitern am eigenen Ethos.

In diesem Buch rechnet Yașar Kemal mit der Welt, der Zeit und der Moderne ab, mit der Industrialisierung, mit der Umweltzerstörung, der Zerrüttung der menschlichen Beziehungen, vor allem aber mit den Medien.

Wie „Memed – mein Falke“ hat auch „Zorn des Meeres“ Sogwirkung. Die Lektüre der Romane Yașar Kemals macht süchtig. Charlotte Harder

Yașar Kemal, Deniz Küstü: „Zorn des Meeres“. Istanbul 1978. Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff, Unionsverlag Zürich 1996, 488 Seiten, 48 DM