Zweierlei Art des Europessimismus

Tony Judt, der amerikanische Historiker, sieht sich als begeisterter Europäer. Aber die Zeit der europäischen Einigung sei vorbei, schreibt er in seinem neuen Buch. Das Gegenteil ist aber richtig, meint „Kommune“-Herausgeber  ■ Joscha Schmierer

Auf deutsch wird herausposaunt, was im gleichzeitig erschienenen Original zweisprachig vorsichtig angefragt wird: „La Grande Illusion? An Essay on Europe“. Tony Judt versucht zu klären, was aus der Europäischen Union werden soll, nachdem sie seit 1989 politisch nicht mehr schlicht für ganz Europa steht. Die Staaten im Osten haben wieder eine Wahl, die EU sieht sich neu in die Pflicht genommen, und ihre Mitglieder können sich überlegen, wie lebenswichtig die Weiterentwicklung und Ausdehnung der Union für sie eigentlich ist. Und diese Überlegungen haben mit der Tatsache zu rechnen, daß sich die EU durch die Osterweiterung der Bundesrepublik bereits unterderhand verändert hat.

Deutschland ist wieder eine europäische Frage. Und die Bundesrepublik hat ein europäisches Problem, wenn sie nach der Vereinigung ihre westlich-unionistische Staatsräson beibehalten will: Sie muß dann für Vertiefung und Erweiterung der EU eintreten, während etwa Frankreich mehr für das eine und Großbritannien mehr für das andere sein kann.

Die Grundthese des heute an der New Yorker Universität lehrenden Historikers Judt ist, daß die europäische Einigung zwischen 1945 und 1989 ihre Zeit hatte, diese Zeit selbst aber „immer mehr in Paranthese“ erscheine. Ein „wahrhaft geeintes Europa“ sei inzwischen „in einem Maße unwahrscheinlich, daß es unklug, ja unsinnig wäre, weiter darauf zu bestehen“. Er selbst sei zwar ein „begeisterter Europäer“ und nicht etwa ein „Euroskeptiker“, die Aussichten würden ihn jedoch zu einem „Europessimisten“ machen.

Wenn aber die europäische Einigung ihre Zeit gehabt haben soll, die nun vorbei ist, schließt diese Behauptung ein bestimmtes Verständnis ihrer Entstehungs- und Erfolgsbedinungen ein. Denn die Unwahrscheinlichkeit eines „wahrhaft geeinten Europa“ wird stark davon abhängen, was unter „wahrhaft geeint“ verstanden wird. Man kann Judts Europessimismus teilen und zugleich seine These verwerfen. Die politischen Konsequenzen dieses Europessimismus werden sich dann erheblich unterscheiden. Die Titel unserer fast gleichzeitig erschienenen Bücher zeigen diesen Gegensatz an: Gegen Judts „Große Illusion Europa. Herausforderungen und Gefahren einer Idee“ steht mein Buch: „Mein Name sei Europa. Einigung ohne Mythos und Utopie“.

Zu Recht weist Tony Judt auf die Zufälligkeit der Entstehung der Europäischen Union hin und macht sich über die Bemühungen lustig, sie aus einer Europa-Idee abzuleiten. Dabei versteht er die (west)europäische Geschichte als eine Geschichte von Nationalstaaten, die aufgrund ihrer Schwächung durch die zwei Weltkriege und mit Hilfe des Marshallplans den Weg der Kooperation eingeschlagen hätten.

Die europäische Geschichte war aber eine Geschichte von Imperien und herrschenden Nation(alität)en. Mit der Niederlage des Nazireichs als rabiatester Form europäischer Weltherrschaft war diese im Westen des Kontinents insgesamt nicht mehr zu halten. Zur Entstehungsgeschichte der EU gehört neben 1945 mit der Zerschlagung des Dritten Reichs der Deutschen vor allem das Jahr 1956 mit dem kläglich mißratenen französisch-britischen Versuch, am Suezkanal ihre europäische Weltmacht zu verteidigen.

Dieser Wendepunkt in der europäischen Kolonialgeschichte traf zeitlich zusammen mit der blutigen Absichtserklärung der Sowjetunion in Ungarn, an ihrem Imperium keinesfalls rütteln zu lassen. 1957 wurden die Römischen Verträge geschlossen. 1956 läßt verstehen, warum es zu ihnen und ihrer Ratifizierung kam. Der Zufall bestand nicht im Niedergang der europäischen Imperien. Der war absehbar und folgerichtig nach den beiden Weltkriegen. Zufällig war, daß sich diese Tendenz mit der Entstehung und Festigung des Sowjetimperiums im Osten schnitt und durch sie bis 1989 überlagert wurde. Nur deshalb stand die westeuropäische Integration nicht von Anfang an vor einer deutschen Frage, sondern hatte es lediglich mit der Bundesrepublik zu tun, die in ihren Ländern historisch ohnehin nach Westen tendierte.

In diesem Zusammentreffen von verschiedenen, ja entgegengesetzten historischen Umständen bestand die Chance für den Beginn der europäischen Integration im Westen. Es war die Tat der Gründer der EWG, sie zu nutzen, welch nationalegoistische Ziele sie dabei auch jeweils im Auge gehabt haben mögen.

Tony Judt weist auf diese hin, übersieht aber die Pointe, weil er das Schlüsseldatum 1956 nicht zu entschlüsseln versucht. Er bringt den Zufall ins Spiel, um nicht nur der „Idee“ Europa Luft abzulassen, sondern um die Bedeutung der Union überhaupt abzuwerten. Dabei argumentiert er rein ökonomistisch. Auf diesem Weg sei es eben mal gelungen, den Vernetzungsgrad von vor 1914 wiederherzustellen, ohne jedoch die frühere Stellung auf dem Weltmarkt wiederzuerlangen. Selbst wenn man die erste Behauptung akzeptierte, änderte das nichts an der Tatsache, daß die europäischen Staaten damals rund um die Welt um Territorialherrschaft rivalisierten. Nicht die relative ökonomische Vernetzung, sondern die imperiale Rivalität war politisch bestimmend. Die vorherrschende Stellung der statistisch addierten europäischen Reiche vor 1914 nun als EU wiederzuerlangen kann aber noch nicht mal ein ökonomisch vernünftiges Ziel sein. Es ist also auch kein Maßstab für Erfolg oder Mißerfolg der EU.

Tony Judt setzt auf die Nationalstaaten als sichere Größe gegenüber der fragilen EU. Die EU ist aber nichts anderes als die intelligente Wiederverwertung von Resten ehemaliger (Kolonial-)Reiche, die sich mit der Europäischen Union zu modernen Nationalstaaten mauserten, das heißt die bestehenden Grenzen untereinander nicht mehr länger expansiv in Frage stellten, auf äußere Territorialherrschaft verzichteten und sich im Inneren als demokratische Verfassungsstaaten organisierten. Der Prozeß von moderner (National-)Staats- und Unionsbildung ging also Hand in Hand und war in Westeuropa 1989 noch keineswegs abgeschlossen (Italien als Beispiel), als sich mit Auflösung des sowjetischen Blocks das gleiche Problem auf neue Weise stellte. Jetzt traten nicht die Reste großer Reiche auf die Bühne, sondern Staaten, die lange Zeit an eigener Bildung gehindert worden und erst im Zuge der Auflösung der Reiche entstanden waren. Folglich sind sie mit Grenzfragen untereinander und mehr oder weniger großen inneren Nationalitätenstreitigkeiten belastet.

Die Frage, ob Nationalstaaten überhaupt die vernünftige Form der Staatsbildung in dieser Region waren, ist nur noch historisch interessant. Sie sind heute auch dort die einzig vorhandene politische Form, in der sich Gesellschaftlichkeit entwickeln kann. Föderalistische Unionsbildung ist unter diesen Staaten heute genauso dringlich wie im Westen nach 1945 und 1956, aber auch schwieriger. Durch die Herrschaft des Sowjetimperiums kam es über Comecon und Warschauer Pakt eben zu keiner Vernetzung dieser Staaten untereinander – Tony Judt nimmt sie fälschlicherweise an –, sondern im wesentlichen nur zu zweiseitigen Beziehungen zum Zentrum, die zudem dem Nutzen nach ziemlich einseitig waren. So kam es nach 1989 auch nicht zu der von manchen Oppositionellen gewünschten Föderation unter den frei gewordenen Staaten, sondern zu einer parallelen Ausrichtung nach Westen, wodurch die zentrale Bedeutung der Bundesrepublik verstärkt wurde.

Zu einer größeren Vernetzung untereinander kann es im Osten wohl nur kommen, wenn diese Staaten nach und nach gleichberechtigte Mitglieder der Europäischen Union werden. Das aber heißt, daß die Europäische Union ihre Attraktionskraft auch als ordnende Kraft geltend machen muß. Aus der Situation nach 1989 und nicht aus irgendeiner Idee entspringt die Absicht, die bestehende Union auf die Außen- und Sicherheitspolitik auszudehnen und sie gerade auf diesem Gebiet zu festigen. Sonst werden die Widersprüche und Schwierigkeiten in Osteuropa die Union selbst gefährden und Tendenzen zur traditionellen Hegemonialpolitik der europäischen Mächte verstärken. Aus der verheerenden Entwicklung im früheren Jugoslawien und der Hilflosigkeit der EU läßt sich ja etwas lernen.

Wenn sich Historiker auf Politik einlassen, können sie nur noch mit Wahrscheinlichkeiten argumentieren, und auf die bleibt die politische Willensbildung nicht ohne Wirkung. Indem Tony Judt die Idee Europa als Illusion kritisiert, meint er, zugleich den Willen zur Union zu erledigen. Man solle sich angesichts der zukünftigen Unwägbarkeiten und Gefahren lieber an die Nationalstaaten halten. Als ob sich diese Nationalstaaten, so wie sie heute sind, ohne die EU verstehen ließen (Spanien und Portugal etwa oder auch die Bundesrepublik) und sich durch einen Bruch mit ihr nicht selbst verändern würden. Müßte nicht gerade ein durch historische Erfahrung wohlbegründeter Pessimismus an der Unionsbildung der europäischen Staaten festhalten, statt diesen Staaten an sich heilsame Kräfte zuzuschreiben, die sie meist nur durch die Union entfalten konnten?

„Wahrhaftig geeint“ aber wird eine Union von Nationalstaaten nie sein. Sie wird strittig bleiben, selbst wenn gerade sie entscheidenden Anteil daran hat, daß diese Staaten selbst nicht an inneren Widersprüchen und den äußeren Herausforderungen zerbrechen.

Die Auflösung des sowjetischen Blocks stellt die Europäische Union vor keine prinzipiell neue Aufgabe, obwohl ohne dessen Existenz im Westen kaum in Angriff hätte genommen werden können, worum es in ganz Europa geht: die Ablösung imperialer Territorialherrschaft durch die Union moderner Nationalstaaten.

Der Unterschied im Osten ist, daß hier nicht Mutterländer von Imperien übriggeblieben sind, sondern Länder, die sich erst durch die Lösung aus dem Imperium bilden konnten, aber Rivalen blieben. Sollte also die „Große Illusion Europa“ darin bestehen, auf einen Raum unterdrückter Nationen politische Formen anwenden zu wollen, in die sich im Westen traditionelle Herrenvölker gerettet haben?

Der „gekidnappte Kontinent“ (Milan Kundera) stand im Zentrum des „Zufalls“, der die europäische Integration im Westen ermöglichte. Darunter leidet Osteuropa immer noch. Soll es jetzt, wo die Europäische Union dort auf keinen imperialen Widerstand mehr stößt, aus historischen Gründen ausgegrenzt werden? Wenn politische Vernunft vor historischen Schwierigkeiten und dem ökonomischen Selbstlauf von vornherein das Feld politischer Willensbildung räumte, wäre das nicht Pragmatismus, sondern Historismus und Ökonomismus als Politik. Etwas ganz Deutsches vielleicht, wozu Tony Judt rät.

Tony Judt: „Große Illusion Europa. Herausforderungen und Gefahren einer Idee“. Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck, Hanser Verlag, München 1996, 160 Seiten, 29,80 DM