■ Kommunitarismus ist, links und rechts gleichermaßen, angesagt. Kritik einer maßlos überschätzten Theorie
: So überflüssig wie Inline-Rollschuhe

Inline-Rollschuhe und Bauchmuskeltrainer: Meist vergehen mehr als fünf Jahre, bis US-Erfindungen auch unsern Alltag bereichern. Daß dieses Gesetz auch für die Politik gilt, beweist die Debatte über die Ideen der Kommunitaristen, die seit einiger Zeit auch in Deutschland boomt.

Seit mehr als zehn Jahren bestimmt die kommunitaristische Kritik der liberalen Gesellschaftstheorie die US-amerikanische Diskussion. Ihr Vorwurf: Weil Egoismus und Eigennutz zur Massenmaxime gemacht wurden, zerstört sich die US-Gesellschaft selbst. Das liberale Leitbild des freien Individuums untergräbt den Zusammenhalt der Bürger, verrechtlicht die Beziehungen der Menschen und überfordert den Staat, der immer mehr Aufgaben wahrnehmen muß. Das kommunitaristische Gegenrezept klingt einfach: Nicht dem einzelnen, sondern der Gemeinschaft sollen Schutz und Unterstützung zukommen. Die lokalen Einheiten, Dörfer, Familien, Vereine, sollen wieder mehr Aufmerksamkeit und Zuständigkeit erhalten.

Dieser Kritik am liberalen Gesellschaftsmodell mag man streckenweise zustimmen. Denn nicht nur in den US-Großstädten ist eindrücklich zu besichtigen, welche Folgen das Absterben intakter Familien und nachbarschaftlicher Gemeinschaften mit sich bringt. Entsprechend groß ist die Sehnsucht nach Gegenmodellen, nach Orten, an denen menschliche Begegnungen wieder möglich sind. Erst kürzlich wurde eine perfekte künstliche Kleinstadt errichtet, mit bilderbuchhaften Häusern, alle um einen Dorfplatz herum angeordnet. 400 Freiwillige sind schon eingezogen. Die Idee für diese kommunitaristische Idylle stammt von Walt Disney.

Doch die Vorschläge der Kommunitaristen sind selten so konkret, daß eine Stadtplanung daraus erwachsen könnte. Meist bietet ihre Kritik kaum mehr als eine blumige Beschreibung der Konflikte der US-Gesellschaft. Ein typisches Beispiel für diesen programmatischen Nebel ist das Programm von Amitai Etzioni, dem aktivsten und einflußreichsten Kommunitarier, der eine Fülle von Allgemeinplätzen in die neue Gemeinschaftsrhetorik verpackt und als politisches Konzept verkauft. So heißt es dort zum Thema Aids, daß Kranke vor Eingriffen in die Privatsphäre zu schützen sind, die Gemeinschaft aber „wirksame“ Schritte gegen die Ausbreitung der Krankheit unternehmen können muß. Was denn nun, möchte man fragen, aber hier wie andernorts zeigt sich Etzioni als Meister der politischen Sprechblasen. Diese leichtverdauliche Unverbindlichkeit läßt den Kommunitarismus auch in Deutschland boomen. Und weil man einen Pudding bekanntlich nicht an die Wand nageln kann, finden die kommunitären Wanderprediger mit ihren flexiblen Thesen rasche Zustimmung.

Vor allem die Linken überschlagen sich, um den Kommunitarismus für sich zu vereinnahmen. „Von den Kommunitaristen lernen“ will Rudolf Scharping mit der SPD, Winfried Kretschmann von den Grünen entdeckt in der Basisorientierung seiner Partei einen kommunitären Mythos. Die parteiübergreifende Begeisterung verdeckt die programmatische Sprengkraft, die der Kommunitarismus für die vertrauten Konfliktlinien der deutschen Innenpolitik besitzt. Seit die marxistisch inspirierte Gesellschaftskritik diskreditiert ist, leidet linke Politik unter dem Verlust ihres theoretischen Überbaus. Dieses Loch zu füllen, kommen kommunitaristische Argumente offenbar gerade recht. Und so werden die kommunitären Botschaften ohne Rücksicht auf ihre Entstehungsbedingungen im Amerika der Reagan-Zeit in die deutsche Diskussion eingespeist: Mehr Gemeinsinn, Rückverlagerung von Kompetenzen an die unteren Ebenen, Vorrang für dezentrale und lokale Gemeinschaften, mehr Solidarität und Stärkung des menschlichen Zusammenhalts.

Neu sind diese Forderungen indes nicht. Im Gegenteil. Solidarität, Eigenverantwortung, Zurückhaltung des Staates, all dies sind klassisch liberale bis konservative Positionen. Was die aktuelle Diskussion jedoch so spannend macht, ist der Umstand, daß nun auch links der Mitte ein – kommunitaristisch verkleidetes – Bekenntnis zur Familie und zur Subsidiarität, dem Gesellschaftsprinzip der CDU, formuliert wird. Einige Jahre zurück mußte man dafür mit üblen Schmähungen rechnen.

In Amerika rechnen sich die Kommunitaristen mehrheitlich den Demokraten zu. Nach deutschen Maßstäben ist der Kern des kommunitaristischen Programms jedoch konservativ, nicht links: Die kommunitaristische Gemeinschaft besteht aus Individuen, die sich in freier Entscheidung zusammenfinden und Normen bestimmen, deren Gültigkeit auf diese Gruppen beschränkt bleiben. Der linke Kollektivismus in Deutschland wie auch jede Art von Universalanspruch für grundlegende Werte haben damit nichts gemein.

Eine Entsprechung findet sich schon eher im Grundsatzprogramm der CDU, das – von der christlichen Begründung einmal abgesehen – das Spannungsverhältnis von individueller Freiheit, Solidarität und Verantwortung der Gemeinschaft in ähnlicher Weise formuliert. Nicht nur Schäuble hat das begriffen und versucht, das positive Image der kommunitaristischen Ideen für das CDU-Programm zu nutzen.

Für die Linke geht es um einen Bruch in der politischen Traditionspflege: um die Wiederentdeckung von „bürgerlichen Werten“, von Familie, Gemeinsinn und Verantwortung via Kommunitarismus. Anstelle des reflexhaften Empörungsrituals der APO-Opas wird nun auch links wieder ernsthaft über „aktive Werterziehung“, über „Charakterbilding“ und den Nutzen von Verbindlichkeit gesprochen. Endlich, möchte man sagen, denn zu lange ist es den Alt- 68ern der Enkelgeneration gelungen, die Protesterfahrungen ihrer Schul- und Lehrjahre zum alleinigen Maßstab für alle Lebenslagen zu machen. Wenn nun wieder von Nachbarschaftshilfe, von Basisbeteiligung und Selbsthilfe die Rede ist, dann endet damit die Lebenslüge der 68er-Generation, die persönliche Verantwortung nur allzu gerne an den Staat delegierte. Ob die Herrschaft der Führungsenkel diese Wende übersteht, ist fraglich. Der Kommunitarismus bietet ihnen immerhin die Chance, sich ohne allzuviel Gesichtsverlust vom Ballast alter Wahrheiten zu verabschieden und den Konservativen das Monopol auf die bürgerlichen Werte zu entreißen.

Ansonsten sind die kommunitaristischen Ideen außerhalb von Amerika eigentlich überflüssig. Genau wie Inline-Rollschuhe und Bauchmuskeltrainer. Lutz Meyer