Nichts übrig für baltische NS-Opfer

■ Im Sparhaushalt 1997 ist kein Etat für individuelle Entschädigungen vorgesehen

Berlin (taz) – Die baltischen Opfer des Holocaust werden keine individuelle Entschädigung für die erlittenden Torturen erhalten. Der Haushaltsentwurf, der seit gestern den Bundestag passiert, enthält keinen entsprechenden Etat. Die Entscheidung fiel schon im Vorfeld, in dem nämlich der „Bereinigungsausschuß“, der letzte Korrekturen hätte anbringen können, einen zur Abstimmung vorliegenden überparteilichen Gruppenantrag ablehnte.

Dieser Gruppenantrag „Humanitäre Geste für Opfer des NS-Unrechts in den baltischen Staaten“ ist ein Musterbeispiel dafür, wie gutgemeinte Absichten gut scheitern. Der Antrag war im Mai 1995 von 40 Abgeordneten von CDU, SPD und Bündnis 90/Grüne in den Bundestag eingebracht worden. Darin wurde die Bundesregierung aufgefordert, sich für eine Entschädigung, die „den individuellen Bedürfnissen der NS-Opfer nahekommt“, einzusetzen. Nach einer Bundestagsdebatte am 12. Oktober 1995 wurde er in den Haushaltsauschuß für 1996 überwiesen. Dort schmorte er bis zur Bearbeitung durch den „Bereinigungsausschuß“ für 1997, der ihn dann auch endgültig erledigte.

Damit ist jetzt eine absurde Situation entstanden. Während die baltischen Staaten Estland und Litauen sich 1995 und 1996 einverstanden erklärten, eine pauschale Summe von je zwei Millionen Mark für allgemeine soziale Projekte als Ersatz für ausbleibende individuelle Entschädigungen von der Bundesregierung anzunehmen, steht Lettland jetzt vollkommen im Regen. Bislang galt dort die Argumentation des lettischen Verbandes der jüdischen Überlebenden von Ghetto und KZ, der die unspezifizierte Zwei-Millionen Offerte als „Almosen“ bezeichnet hatte. Lettland unterschrieb deshalb als einziger baltischer Staat keinen Vertrag über diese sogenannte „humanitäre Geste“. Der Verband der Holocaust-Überlebenden wehrt sich vehement, daß mit einer Einmalzahlung der Bundesregierung an den lettischen Staat ihr „Recht auf Entschädigung“ ad acta gelegt wird.

Auf dieses Recht wies auch der Leiter des Museums und Dokumentationszentrums „Juden in Lettland“, der Ghetto- und KZ- Überlebende Margers Vestermanis aus Riga, hin. Auf einer Pressekonferenz anläßlich seiner vom Frankfurter Fritz-Bauer-Institut organisierten Vortragsreise über die Shoa in Lettland (taz v. 23.11), zitierte er einen Bericht des Finanz- und Wirtschaftsberaters des Reichskommissariats Ostland vom 10. Mai 1944. Alleine durch die Auspressung jüdischer Zwangsarbeit in der Kriegswirtschaft in Lettland, so meldete der NS-Finanzexperte stolz, seien über zehn Millionen Reichsmark erwirtschaftet worden. „Wenn nach all diesem Deutschland jetzt die Chupze hat“, sich aus seiner Pflicht davonzustehlen, so sei dies „haarsträubend und entwürdigend“.

Obendrein wäre es „aberwitzig“, wenn die lettischen Opfer des Nationalsozialismus, die nach Deutschland, USA oder Israel übersiedeln, einen Anspruch auf 500 Mark Verfolgtenrente haben, während die, die trotz aller Bitternisse in Lettland bleiben, keinen Pfennig bekommen, meinte der Historiker.

Nach seinen Angaben leben in Lettland nur noch 94 jüdische, ehemalige Ghettobewohner und KZ- Häftlinge. Daß diese bisher nicht unter das Existenzminimum gerutscht sind, verdanken sie nur Privatinitiativen aus Deutschland, die seit etwa 1992 regelmäßig Medikamente und Geld schicken.

Adressen über: W. Nachwei, Tel.: 0228-1682567. Anita Kugler