Am Ende bleibt man Nigger

Die schwarze Mittelschicht Amerikas wächst, hat es aber noch nicht geschafft, sich an den Ghettos vorbei auch kulturell zu definieren – Spike Lees „Get On The Bus“ verarbeitet ihre Großkundgebung, den Million Man March  ■ Von Andrea Böhm

Selbsternannte Revolutionäre oder Apostel genießen in diesen Zeiten nur kurz die Aufmerksamkeit der amerikanischen Öffentlichkeit. Das gilt für Newt Gingrich ebenso wie für Louis Farrakhan. Ein Jahr nach dem Million Man March ist der Nation-of-Islam- Führer wieder in der Obskurität der Scharlatane verschwunden, nachdem er zuletzt auf einer Auslandsreise der internationalen Hautevolee der Diktatoren in Nigeria, Libyen, dem Sudan und dem Iran gehuldigt hatte. Den Rang um das größte Medienereignis in der Rubrik „black man“ machen sich derzeit O.J. Simpson (immer noch mordverdächtig) und Michael Jackson (werdender Vater unter nicht näher geklärten Umständen) streitig. Nicht gerade ein Fortschritt.

Immerhin – es bleibt der Weg ins Kino oder in den Buchladen. Was immer Amerikas schwarze Intellektuelle vom Million Man March hielten – das Ereignis bewog offenbar einige, in die Tasten zu greifen. Keine Woche vergeht derzeit ohne Rezension eines neuen Buches zur Lage der Schwarzen in den USA, zum Diskurs über Rassismus, zur Bedeutung des O.J.-Simpson-Prozesses oder des Million Man March. Der, schreibt Michael Dyson, Kommunikationswissenschaftler und Autor von „Race Rules: Navigating The Color Line“, habe schwarzen Männern eine einmalige Chance geboten: „unsere Identitäten in all ihrer wunderbaren, unterschätzten Komplexität zu zeigen“. Soll heißen: Schwarze Männer sind entgegen der weitverbreiteten Auffassung nicht in die drei Kategorien des Gangbangers, Ghettorevolutionärs oder der Slam-Dunk-Ikone à la Michael Jordan aufzuteilen.

Komplexität findet der Kinozuschauer in Spike Lees „Get On The Bus“, der Geschichte von 15 Schwarzen, die in Los Angeles die 4.000 Kilometer lange Busreise nach Washington zum Million Man March antreten. Keine Drogen nehmen und nicht auf die Klobrille pinkeln – das sind die beiden einzigen Regeln, auf die sich die 15 Passagiere vor der Abfahrt einigen.

Darunter ein eitler Schauspieler, der seine Homophobie und seine Promiskuität stolz zur Schau stellt; ein Angehöriger des Los Angeles Police Department, der sich ständig für seine helle Hautfarbe und seine weiße Mutter rechtfertigen muß; ein schwuler Ex-Marine und sein Freund, die gerade ihre Beziehung zu Ende diskutieren; ein arbeits- und obdachloser Endfünfziger, der als einziger die Bürgerrechtsbewegung bewußt miterlebt hat; ein Vater, der per Gerichtsanordnung verpflichtet ist, seinen halbwüchsigen Sohn nach einem Diebstahl die nächsten 72 Stunden an einer Kette bei sich zu führen; ein ehemaliger Gangbanger, der zum Islam konvertiert ist und nun mit gefährdeten Jugendlichen arbeitet; ein erfolgreicher Autohändler, der die Republikaner für ein Geschenk Gottes und Rassismus für eine Fiktion leistungsunfähiger Schwarzer hält. Für anderthalb Kinostunden in einem Bus zusammengeschlossen, ergibt diese Mischung reichlich Konfliktstoff, wobei die schauspielerischen Leistungen zwischen exzellent und mittelmäßig, die Dialoge zwischen dramatischer Dichte und Agit-Predigt schwanken.

Was wiederum Lees Leistung in keiner Weise schmälert, den Ausweg aus einem teuflischen Dilemma gefunden zu haben: einerseits gegen die rassistische Verzerrung der eigenen Minderheit durch die Mehrheit anzukämpfen und möglichst sympathische schwarze Heroen zu präsentieren – und gleichzeitig die nicht zu leugnenden Probleme dieser Minderheit. Zum Beispiel das, was schwarze Frauen wie Lisa Jones, Spike Lees Koautorin mehrerer Drehbücher, das „one-in- four problem“ nennt: Laut Statistik befindet sich einer von vier schwarzen Männern unter 30 Jahren entweder hinter Gittern oder in anderweitig unfreiwilligem Kontakt mit der Strafjustiz. „Wozu wir hinzufügen“, schreibt Jones, „Nummer zwei nimmt Drogen, Nummer drei bevorzugt Männer oder Blondinen, und Nummer vier hat schon zehn Frauen an der Hand.“ Dahinter steckt nicht nur resignative Süffisanz, sondern auch die Aufforderung zur Veränderung, weswegen zur fortgesetzten Perplexität vieler Feministinnen der Ausschluß der Frauen vom Million Man March auch ein Jahr danach kein großes Thema ist. Die brothers sollten sich allein mit jener Malaise auseinandersetzen, die nicht nur in dem Mangel an heiratsfähigen Junggesellen besteht, der in schwarzen Hochglanzmagazinen wie Essence und Ebony oder Filmen wie „Waiting To Exhale“ beklagt wird.

Daß sie es in einer seltsamen Mischung aus Polit-Demo und religiösem Revival-Meeting, aus kollektiver „Sühne“ für individuelles Versagen und konservativer Black Power taten, entsprach ganz den Zeichen der Zeit. Mann marschierte Arm in Arm mit Gott und Allah, predigte mehr Eigenverantwortung und schwor, aus diesem Erlebnis als besserer Vater, Ehemann und Nachbar hervorzukommen.

Die Moralisierung der Politik und das Mißtrauen in den Staat ist unter Schwarzen genauso fortgeschritten wie unter Weißen – wenn auch aus anderen Gründen. Letztere verstehen es als legitime Gegenreaktion auf einen Staat, der ihrer Ansicht nach soziale Gleichheit „herbeimanipulieren“ will; erstere sehen es als Ausdruck ihrer Enttäuschung auf einen Staat, der trotz Bürgerrechtsgesetzen nie volle Chancengleichheit geschaffen hat und nichts gegen jenen Teufelskreis aus Armut und Gewalt in den Ghettos unternimmt.

Die schwarze Mittelschicht wächst, doch ihre Mitglieder können den rassistischen Vorurteilen nicht entfliehen, die eigentlich auf die brothers and sisters in South Central L.A., Harlem oder Chicago's South Side gemünzt sind. So haben denn auch alle Debatten über die Vielfalt schwarzer Identität im Reisebus von L.A. nach Washington ein jähes Ende, als der Bus auf der Autobahn von zwei weißen Polizisten gestoppt wird. Eine Gruppe schwarzer Männer assoziieren sie automatisch mit Drogenhandel. Als der Kollege vom Los Angeles Police Department sich ausweist, um die Konfrontation zu beenden, wird ihm eisig bedeutet, sich hinzusetzen und den Mund zu halten. Mit einem Schlag sind die 15 plötzlich zu einem Kollektiv zusammengeschweißt, das sie gar nicht sein wollen. „Am Ende ist und bleibt man eben Nigger“, erklärte in einem Interview Isaac Fulwood, ehemals Polizeipräsident der Hauptstadt Washington und Teilnehmer am Million Man March. Als Chef der örtlichen Polizei hatte er immerhin die Möglichkeit, Disziplinarstrafen zu verhängen, als ihn ein weißer Streifenpolizist eines Abends im Auto stoppte und mit der lapidaren Begründung durchsuchen wollte, er sähe „verdächtig“ aus.

Der Rezensent der Zeitschrift Time kritisierte diese Episode im Film als „anachronistische Konfrontation“, die künstliche Spannung erzeugen sollte. Doch für die meisten schwarzen Zuschauer ist sie das Schlüsselerlebnis. Nichts symbolisiert die Ausweglosigkeit aus dem Stereotyp des schwarzen Kriminellen so sehr wie die Polizeikontrolle im Straßenverkehr. Hände aufs Lenkrad, nicht mucksen, immer schön „Yes, Sir“ sagen – und an das Rodney-King-Video denken.

Hat sich nun, ein Jahr nach dem Million Man March, in der schwarzen Community etwas verändert? Ja, behauptet Dyson, der bei seinen Vortragsreisen in Kirchen, Moscheen und Hörsälen ein größeres Engagement und ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit beobachtet haben will. Ja, sagt Fulwood, der sich in die Lokalpolitik gestürzt hat, mehr schwarze Organisationen unterstützt und im übrigen findet, daß Spike Lee für „Get On The Bus“ endlich einen Oscar kriegen sollte. Nicht genug, meinten schwarze Frauen – darunter Betty Shabazz, Witwe von Malcolm X, und Laura Randolph von Ebony. „Viel Gerede, wenig passiert.“

Ja, würde zweifellos Spike Lee sagen, der mit „Get On The Bus“ eine Premiere ganz besonderer Art geliefert hat: Es ist der erste Hollywood-Film, der ausschließlich mit Geldern von Schwarzen finanziert worden ist. Prominente, darunter Wesley Snipes und Danny Glover, steuerten die Produktionskosten in Höhe von 2,4 Millionen Dollar bei; Columbia Pictures kaufte das Endprodukt für 3,6 Millionen Dollar ein. Ein erster, wenn auch kleiner Schritt, um den Fuß in den „All white“-Club der Hollywood-Finanziers zu bekommen.