Eine Eule mit kategorischem Imperativ

Der Psychiatrie-Reformer Klaus Dörner hat nichts und niemanden geschont: die Verhältnisse nicht, seine Feinde nicht und auch nicht sich selbst. Seine Botschaft: Jeden Menschen respektieren – und bei denen anfangen, die der Gesellschaft lästig sind  ■ Von Bascha Mika

Der Weg zum Guru ist gepflastert mit großen Worten: „Papst der Sozialpsychiatrie“, „Symbolfigur“, „mutiger Reformer“.

Wer dann nach Gütersloh geht, um sich den Meister anzusehen, trifft einen schmächtigen Mann mit zergrübeltem Gesicht. Der blickt leicht scheu aus blaßblauen Augen, stopft sich „Stanwell extra mild“ in die Pfeife und sagt: „Man muß sich immer wieder in Frage stellen können, bis zu dem Punkt, daß man sich selbst durchstreicht. Diese Übung praktiziere ich seit längerem möglichst regelmäßig.“

Professor Dr. Dr. Klaus Dörner ist 63 und hat beschlossen, seinen Abschied zu nehmen. Von der Leitung der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie im westfälischen Gütersloh und von seinem Lehrstuhl an der Universität Witten-Herdecke.

Niemand zwingt ihn zu gehen. Er hat es sich selbst verordnet. Als „radikalen Schnitt“. Und damit der Schnitt auch tief genug geht, ist er ab heute nicht nur aller Ämter ledig, sondern begibt sich darüber hinaus noch ein halbes Jahr in Klausur. Um seinen Mitarbeitern und seinem Nachfolger Luft zu verschaffen, sagt er. Keine Auftritte, keine Vorträge, keine Einmischung. Nachdem er fast dreißig Jahre öffentlich gekämpft, agitiert, gestritten hat.

Das klingt nicht nur ein bißchen grausam gegen sich selbst, das soll es auch sein. Darin ist er prima. Anderen eine große Portion bitterer Medizin zu verabreichen und auch selbst einen besonders kräftigen Schluck davon zu nehmen. „Man kann nie genug tätige Reue üben“, heißt das in seinen Worten. Und wenn dabei ein spöttischer Zug um den schmalen Mund auftaucht, dann nur, weil er weiß, wie wenig trendy ein Büßergewand ist.

Dabei hat dieser Mann selbst Trends gemacht. Hat Psychiatrie nie im engen Sinne verstanden, sondern sie immer in ihren gesellschaftlichen Kontext gestellt.

Klaus Dörner – dieser Name steht für die Aufbruchstimmung in der westdeutschen Psychiatrie nach 68. Für die Verknüpfung von Kapitalismus- und Psychiatriekritik. Für den Ruf nach Auflösung der Großkrankenhäuser. Für die Enthospitalisierung der Langzeitpatienten und die Begleitung der Angehörigen. Für die Debatte um die Massenmorde an psychisch Kranken während der NS-Zeit und die Entschädigung der überlebenden Opfer. Für die Diskussion um Euthanasie und Sterbehilfe.

Wer das Lebensrecht von Menschen anzweifelt, egal wie alt, krank, gestört, häßlich und lästig sie sind, muß mit Klaus Dörner rechnen. Mit einem hochintelligenten Kämpfer, der die politische und mediale Öffentlichkeit für sich einnehmen kann und seine Gegner mit einer Mischung aus spröder Polemik und verhaltener, aber beißender Wut attackiert.

Zu sich selbst ist er auch nicht viel netter. Da sitzt er entspannt zwischen seinen Büchern und Akten, nuckelt an seiner Pfeife und bemerkt wie nebenbei: „Wer den Drang hat, die Welt zu verbessern, muß sich – als Gegenwicht – immer mal wieder vorstellen, daß er nie geboren worden wäre.“

Wenn man ihn so anschaut, die tiefen Furchen auf der Stirn, diese trotz aller äußeren Gelassenheit zermürbte Gestalt, glaubt man es ihm sofort. Dieser Mann läßt keine mildernden Umstände gelten.

Sein jüngster Angriff galt der Bundesärztekammer. Die Kammer erwägt, die Sterbehilferichtlinien aus der Schweiz zu übernehmen; dann dürften auch deutsche Ärzte Patienten im Wachkoma, die zwar schwer hirngeschädigt sind, aber selbständig atmen, verhungern lassen. Für Dörner der erste Schritt, „aktive Euthanasie“ auch bei anderen Gruppen Schwersthirngeschädigter zuzulassen.

Also schlug er kürzlich beim Kongreß zum 50. Jahrestag der Nürnberger Ärzte-Prozesse vor: „Vielleicht wäre wirklich die Zeit reif, den Sterbehilfeentwurf, wie ihn die Nazis für die Nachkriegszeit vorgesehen hatten, nun aus der Schublade zu holen, öffentlich zu diskutieren und umzusetzen.“

Dörner, der Rebell und Randalierer. Einer, der sich begeisterte Freunde und heftige Feinde macht. „Unerträglich eitel ist er“, behaupten seine Widersacher. „Eitel?“ fragt er. Und dann lächelt er. Ein Lächeln, als würde eine Staubschicht von einem Spiegel geblasen, und darunter – tatsächlich – erscheint ein Klaus Dörner mit verschmitztem Gesicht. „Ich gehe mal vorsichtshalber davon aus, daß ich eitel bin“, grinst er.

Eitel aus gnadenlosem Anspruch und Ehrgeiz. 80 Stunden Arbeit in der Woche, rund 150 psychiatrische Veröffentlichungen, 17 Jahre Klinikleitung ohne einen Krankheitstag und – von ein paar Reisen mit Patienten und Pflegern abgesehen – ohne Urlaub. Was treibt ihn da?

„Seine hysterische Geltungssucht“, sagen seine Feinde. „Sein protestantisches Arbeitsethos“, sagen seine Freunde. Er selbst sagt: „Ein Teil davon ist dieser lebenslange Zwang, mich mit der Nazizeit zu beschäftigen. Als Kind habe ich mich mit dieser Ideologie emotional identifiziert.“

Er sei Teil des NS- Systems gewesen und so habe er sich auch gefühlt. „Psychoanalytiker“, stichelt er – denn er ist stolz darauf, nicht einen einzigen Tag irgendeine Form von Psychotherapie gelernt zu haben –, „Psychoanalytiker würden es mein ,ungelöstes Kindheitstrauma‘ nennen.“

Dörner ahnt, wie schnell er selbst hätte in die Rolle eines Nazi- Arztes kommen können. „Nur eine Spur weniger Selbstkritik“, bekennt er zögernd, „und eine Spur mehr Glaube daran, daß ich mit meinen medizinischen Möglichkeiten die Welt verbessern könnte – und schon wäre ich dazu in der Lage gewesen.“ Bei der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus habe er sich durch viele „Stufen der Selbstverblendung“ hindurcharbeiten müssen.

Was er dabei gelernt hat, verbreitet er als seine unfrohe Botschaft: Warnung vor der „unglaublichen Machtgier“ der Mediziner, vor ihrem gefährlichen Bedürfnis, eine „leidensfreie Gesellschaft“ zu schaffen, ihrer „unwissenschaftlichen und suggestiven“ Art, „Heil“ zu versprechen.

Seine frohe Botschaft: jeden Menschen in seiner Würde anzuerkennen und in seiner Andersartigkeit zu respektieren. Respektieren – nicht mit „Mitleidssoße“ übergießen. Denn darin liegt für Dörner schon wieder die Gefahr, „ihn als Person nicht mehr ernst zu nehmen, ihn mir zum Objekt zu machen“. Jeden respektieren. Auch den Dementen, den chronisch Kranken, den Schwerbehinderten.

Er hat daraus einen kategorischen Imperativ abgeleitet: „Handle in deinem Verantwortungsbereich so, daß du mit dem Einsatz all deiner Ressourcen an Kraft, Zeit, Aufmerksamkeit und Liebe da beginnst, wo es sich am wenigsten lohnt.“ Und er versteht diese persönliche Maxime bewußt als Gegenbewegung zum Kapitalismus, der immer dort investiert, wo es sich am meisten lohnt.

Wieviel Klaus Dörner beruflich investiert, ist leicht festzustellen. Wieviel privat, dagegen kaum. Dieser Teil seines Lebens, seine Frau, seine zwei Kinder aus erster und die drei aus zweiter Ehe, sind für die Öffentlichkeit, selbst für viele langjährige Bekannte, tabu. Und wenn jemand in seine persönliche Sphäre eindringt, ihn nach seinem Befinden fragt oder ihm gar rät, er solle sich schonen, kann er richtig ruppig werden.

Wenn der Meister als Tier weiterleben müßte, wäre er gern eine Eule. Das ist auch sein Wappentier in der Familie. Kein besonders prächtiger Vogel, aber mit seiner leicht angeschabten Cordhose, dem karierten Hemd und der schlichten alten Armbanduhr ist Dörner auch nicht gerade herausgeputzt. Äußerlichkeiten sind es nicht, was diesen Mann interessiert.

Am wenigsten würde ihn wohl der Speisezettel des Federviehs stören. Dörner ißt nur einmal am Tag – abends. Das habe er sich vor fünfundzwanzig Jahren angewöhnt, es bekomme ihm gut, und ein Asket, wie viele behaupten, sei er schon gar nicht. „Ich praktiziere diese Diät, weil ich so gern esse und mich den ganzen Tag darauf freue“, verkündet er. – Nur hat das noch niemand gesehen.

Trotzdem versucht er fröhlich eins draufzusetzen. „Ich habe mich im Laufe des Lebens etwas mühsam dazu gebracht, auch gern zu leben, zu reisen, zu essen und zu trinken.“ Hätten ihn da nicht bereits seine eigenen Worte verraten, würden es seine Freunde tun. „Klaus ein lebenslustiger Mensch?“ mokiert sich ein alter Mitstreiter, „da kann ich ja nur lachen.“

Heuchelei à la Dörner: öffentlich so tun, als würde man sich auf Daunen betten, aber dann heimlich aufs Nagelbett klettern. Aus Selbstverständnis, nicht aus Selbstquälerei.

Seine Strenge und sein kategorischer Imperativ machen es seinen Freunden nicht leicht, mit ihm auszukommen. Seinen Feinden erst recht nicht. Was sollen sie machen gegen einen Mann, der nicht nur solche Ansprüche vor sich her trägt, sondern sie auch noch zum guten Teil lebt? Der sein Privatleben äußerst bescheiden gestaltet; der mit einer Kollegin einen Medizin-Bestseller schreibt und jeden Pfennig davon – und noch einiges Geld mehr – in Psychiatrieprojekte steckt; der seine Anliegen so glaubwürdig verbreitet, daß er ständig von der Politik und den Medien angefragt wird und eine große Anhängerschar unter den Angehörigen psychisch Kranker und den Beschäftigten in der Psychiatrie hat?

Die Standesmediziner wissen, was sie gegen so jemanden machen. Dörner ist der „Nestbeschmutzer“. Der „Schaumschläger“ mit „Taschenspielertricks“, der „Guru“ mit „extrem linken Positionen“.

Als ein Krankenpfleger ausgerechnet in Dörners Psychiatrie in Gütersloh zehn Patienten umbrachte und 1992 vor Gericht gestellt wurde, glaubten seine Gegner den Beweis gefunden zu haben: Dörner sei als Klinikleiter unfähig. Seine Witterung für die Tötungstendenzen in der Gesellschaft hätten ihn den Geruch des gewaltsamen Todes im eigenen Haus nicht wahrnehmen lassen. Noch heute ist dieses Verbrechen für Dörner ein extrem heikler Punkt. „Selbkritik? Die ist immer zuwenig und kommt immer zu spät.“

In den beiden wichtigen psychiatrischen Fachgesellschaften, der Bundesdirektorenkonferenz und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, hat Klaus Dörner nie ein Mandat bekommen. Er habe in Fachkreisen „keinen so guten Ruf“, heißt es lapidar. Kein Wunder. Schließlich hat er in den siebziger Jahren, als er die Auflösung der Großkrankenhäuser propagierte, am Ast des Berufsstands gesägt. Das wird ihm bis heute nicht verziehen, auch wenn seine Vorstellungen längst nicht mehr so radikal sind.

Als es um Dörners Aufnahme in die „Akademie für Ethik in der Medizin“ ging, verbreiteten die Kollegen, er sei „emotional und unsachlich in ethischen Fragen“ und außerdem ein „Demagoge“.

Ist er das? „Ich bin ein sehr schüchterner, scheuer, gehemmter Mensch“, sagt Dörner. Ach, wirklich? „Ja“, sagt er, „bis in mein dreißigstes Lebensjahr war ich in Anwesenheit von mehr als zwei Menschen nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu sprechen.“

Und wie wird so jemand zum publikumsversierten, beinharten Kritiker? Da lehnt er sich noch ein wenig weiter in seinem Bürosessel vor, nimmt sein Gegenüber noch ein wenig fester in den blaßblauen Blick und bemerkt: „Ich weiß es nicht. Ich habe mich in den letzten Jahrzehnten persönlichkeitsfremd benommen.“ Diese „merkwürdige Wandlung“ sei durch das Amt mit ihm vorgegangen.

Ab morgen will Klaus Dörner in seiner Klausur herausfinden, „ob das jetzt meine zweite Natur geworden oder mir nur aufgepappt ist.“ Seine Gegner sollten vorsichtshalber mit dem ersten rechnen.