Die grüne Chance der Gunda Röstel

In der DDR ist sie gegen Wände gerannt, jetzt will sie durchstarten: Gunda Röstel, die künftige Parteisprecherin der Grünen, vertritt eine pragmatische Politik. Doch bei strittigen Fragen scheut sie noch zurück  ■ Von Dieter Rulff

82 Sätze umfaßt die Rede, mit der Gunda Röstel die nordrhein- westfälischen Bündnisgrünen von ihrer Kandidatur überzeugen will. 82 Sätze Programmatisches und Persönliches. 82 Sätze, von denen an diesem kalten Novembersonntag der nordrhein-westfälische Parteirat allerdings nur zwanzig hören will – dann „ist die Redezeit um“. Verärgert sieht sich die Kandidatin zum Tagesordnungspunkt geschmolzen.

Dann folgt der eine Satz, der die zwanzig gesprochenen und die sechzig mißachteten in den Schatten stellt. Der mühelos in alle Ohren dringt und noch am gleichen Tag seinen Weg von Essen nach Bonn findet, um dort in Fraktion und Parteizentrale dem verschwommenen Bild von der Kandidatin aus dem Osten deutlichen Kontrast zu verleihen.

Wochenlang ist Gunda Röstel freundlich ausgewichen, wo immer Journalisten die Worte Bosnien und Bundeswehr in den Mund nahmen. Nun wollte sie nicht mehr kneifen. Und so schob sie in Essen hastig jenen Satz hinterher, der besagt, daß „die Bundeswehr ein anderes Ansehen bekommen“ habe und daß es auch 68er, Bündnisgrüne und 89er gewesen seien, „die das Bild der Bundeswehr im Ausland verändert haben“.

Gunda Röstel will nicht die Ostfrau sein...

Nun ist der Satz in seiner ersten Hälfte, nüchtern betrachtet, banal und in seiner zweiten, wohlwollend betrachtet, interpretationsfähig. Röstel nützte auch der kurzatmige Nachschub nichts mehr, daß die Bundeswehr langfristig reformiert und in ein internationales System der Sicherung eingebunden werden müsse. Das diffuse Unbehagen und das indifferente Wohlwollen, das sich bis dahin im Westen mit ihrem Namen verbunden hatte, verdichtete sich zu handfesten Vorbehalten: Die einen kritisierten Röstels Position zur Bundeswehr, die anderen fanden sie schlicht unprofessionell. Da ihre Redezeit sowieso abglaufen war, hätte sie doch zu dem Punkt besser geschwiegen – so ein Hinweis, der der Kandidatin klarmachte, wie launisch die Unterstützung auch in den realpolitischen Reihen ist.

Gunda Röstel bewertete das Essener Treffen hinterher als „professionell durchgestylte Veranstaltung“. Vorher hatte sie es noch als Generalprobe für den Parteitag in Suhl erachtet: eine gedämpfte Formulierung für die Fremdheit, mit der die West-Grünen sie aufgenommen hatten. Drei Wochen zuvor, im mecklenburgischen Parchim, konnte sie sich noch als „unsere Kandidatin“ fühlen, hier im Essener Saalbau war sie die Frau aus Flöha, die „unsere Vorsitzende“ werden will.

Gunda Röstel hatte mehr sagen wollen, um diese Differenz zu überwinden, sie wollte nicht nur auf Ostticket fahren. Auf diesem war sie eingeführt worden, hatte zur rechten Zeit ja gesagt, als der parlamentarische Geschäftsführer Werner Schulz in den neuen Bundesländern eine Nachfolgerin für Krista Sager suchte. Schulz kennt und schätzt Röstel aus der Zeit, als man in Sachsen gemeinsam verwegene schwarz-grüne Wahlkämpfe führte. Den meisten, auch im Osten, war sie jedoch unbekannt, bis sie Mitte September vor den Ost-Länderrat trat. Wie sie diesen kopf- und heillosen Haufen schließlich hinter sich brachte, mal klar Zustimmung erheischte, mal kühl mit Abreise drohte, bis das gewünschte Votum zustande kam, das nötigte nicht nur der aus Bonn angereisten Fraktionssprecherin Kerstin Müller Respekt ab. Das läßt auch jetzt Röstels Kritikerinnen mit Achtung von ihr reden. Wie sie danach vor die Presse trat, die Augen auf das hintere Ende des Raums gerichtet, so daß sie stets alle im Blick hatte – eine Angewohnheit, die die Lehrerin verrät – und freundlich, aber bestimmt Fragen beantwortete, das nahm auch die versammelten Journalisten für sie ein. Nicht restlos, denn, wie gesagt, sie blieb auch Antworten schuldig.

Diese nun zu geben, Stellung zu beziehen, auch zu Fragen, die als Ausweis strömungspolitischer Orientierung gelten, war ein Vorsatz, mit dem Gunda Röstel nach Essen gereist war. Immerhin war ihr bei den vorherigen Vorstellungsrunden im Osten schon nachgesagt worden, bei tagesaktuellen Themen auszuweichen, hatte man ihr gar eine „unpolitische Art“ angekreidet. Das sind Vorhalte, die eine angehende Parteivorsitzende schwerlich auf sich sitzen lassen kann, vor allem nicht, wenn sie mehr sein will als die Erfüllung einer dreifachen Quote.

Zwar betont Röstel ihr Unbehagen mit dieser Quote, die sie so unversehens in die erste Reihe katapultierte, würde sich eine Gegenkandidatin oder einen Kandidaten wünschen. Gegen einen Mann aus dem Osten wäre sie allerdings nicht angetreten. Die ablehnende Haltung, die sie bei der Vereinigung von Bündnis 90 und den Grünen zur Frauenquote eingenommen hat, schlägt ihr jetzt von ihren damaligen grünen Verhandlungspartnerinnen entgegen. Röstel sagt, sie habe dazugelernt, wenn sie mit ihrer Haltung zur Quote konfrontiert wird, und läßt offen, ob sie sich zur Befürworterin gewandelt hat. Sie gesteht, daß sie ohne die Quote nicht kandidiert hätte, und läßt offen, ob dies alles ein Widerspruch ist.

Es ist keiner, frau muß nur im Osten groß geworden sein, eine Biographie haben, die von Mißtrauen gegen kollektive Deutungsmuster geprägt ist, und gelernt haben, wie man dieser Kollektivität ausweichen kann. Röstels Erfahrungen mit der DDR sind nicht die einer politischen Verfolgung, sondern die der alltäglichen Schikane.

Sie darf nicht auf die Erweiterte Oberschule, weil der Vater kein Arbeiter, sondern Produktionsleiter ist. Ihr evangelisches Elternhaus, ihre Konfirmation dienen als Vorwand, ihr ihren Berufswunsch zu verbauen: Trotz Bestnoten darf sie nicht Medizin studieren. Sie entschließt sich, Lehrerin zu werden. Sie ist keine Dissidentin, sondern eine, die lauthals lacht, als in einer Sitzung der Kreisgewerkschaftsleitung zur Vierzig-Jahr- Feier der SED das Motto „Vierzig gute Taten“ ausgegeben wird. Ihr Lachen erstickt in den bleiernen Gesichtern der Kollegen und Kolleginnen. Dann hat Röstel die Schnauze voll und will in den Westen gehen. Da ist der Osten schon am Ende.

Hat sie Angst davor zu scheitern? Vor dem Gefühl, sich mit dieser Kandidatur zuviel aufgeladen zu haben? Vor den Herausforderungen als Parteisprecherin? Nein, Angst hat sie nicht. Wirkliche Angst hat sie anders kennengelernt. Die überfiel sie in den Bunkern der Bürokratie, als sie zum Ausreiseantrag Stellung nehmen sollte: die Angst davor, sich zu verquatschen, die Panik, die Kinder könnten ihr weggenommen werden. Wenn Röstel sich daran erinnert, weiß sie, „schlimmer kann es mir nicht mehr gehen“.

Es ist die Familie, die ihr Durchhaltevermögen stärkt und die Kandidatin wie selbstverständlich dafür plädieren läßt, „wenigstens die Samstage parteifrei (zu) halten, daß wir unsere Kinder, unsere Familien – das ist der Grund, auf dem wir stehen – nicht verlieren“. Gewöhnungsbedürftige Worte für ein Parteivolk, das Feminismus, Ökologie oder Demokratie zu seinen höchsten Werten zählt.

Röstel war in der Kirche engagiert, doch sie war keine Bürgerrechtlerin. Letztere haderten mit dem System, sie wandte sich von ihm ab, weil es persönliche Entwicklungen verbaute, Biographien zerstörte. Sie war gut und „begriff nicht, warum ich permanent gegen eine Wand lief“. Nun, da die Wand weg ist, sieht sie keinen Grund mehr, sich mit deren Trümmern zu beschäftigen.

Gunda Röstel ist keine „Jammerossi“, keine Stasijägerin. Ihr Verhältnis zur PDS ist weniger vergangenheitsfixiert als zukunftsorientiert – jedoch ablehnend. Eine, die mit 28 Jahren im 89er Umbruch zur Schulleiterin hochgespült wurde und diese Aufgabe seitdem meistert, deren Mann ein Elektronikunternehmen gründete, das sich mit elf Beschäftigten behauptet. So eine ist, was Röstel selbst ohne Ironie „Wendegewinnler“ nennt. Ihr Mentor Werner Schultz feiert sie schon als durchsetzungsfähige Ostvertretung der Partei: Eine „Topfrau, besser als hundert Seiten Aufbau-Ost-Papier“.

...sie will den Osten besser vertreten

In der Tat ist sie die erste Kandidatin der Ost-Bündnisgrünen, die für Aufbau steht, die, wenn sie ihrer Partei die Aufgaben im Osten nahebringen will, unumwunden auf ihren Mann verweist, „dessen Unternehmen mit seismographischer Empfindlichkeit die Probleme kleiner Unternehmen im Lande widerspiegelt“. Dann redet sie über Abgabelasten, den Behördendschungel und fehlendes Risikokapital, gerade so, als bewege sie sich auf einem originären Feld ihrer Partei.

Dem ist nicht so, und so ärgert Gunda Röstel sich, daß die Bündnisgrünen zwar einen Vertreter eines mittelständischen Unternehmensverbandes zu ihrem Strategiekongreß nach Hannover eingeladen haben, jedoch „auf seine Fragen und Probleme kaum eingegangen sind“. Sie hadert mit dem demonstrativen Desinteresse, das ihr zukünftiger Sprecherkollege Trittin diesem Funktionär entgegenbrachte – weit mehr als mit seiner Bosnien-Position.

Jeder habe drei Versuche im Leben, und das wäre doch eine reizvolle Herausforderung, schildert sie ihre ersten Gedanken, nachdem ihr im August die Kandidatur angetragen wurde. Sie wolle allerdings nicht, wenn Fischer hü und Trittin hott sagt, „und hinterher versteht kein Schwein, wo's langgeht“, dies auch noch für den Osten übersetzen.

Am Wochenende in Suhl werden Fischer und Trittin wieder hü und hott sagen, werden die Parteiflügel sich in der Bosniendebatte formieren. Dann muß auch Gunda Röstel Position beziehen, versierter als bei der Generalprobe in Essen. Und vielleicht wird sie es dann schon nicht mehr so wichtig finden, daß Parteitage samstags stattfinden und sie ihren ersten Vorsatz bereits gebrochen hat.