Präzise Schnitte

18 Geschichten aus Europas Nahem Osten, gesehen mit Richard Swartz' schonungslosem Blick  ■ Von Rosemarie Seidel

Um es gleich vorweg zu sagen, Richard Swartz bringt unsere Zeitkoordination ins Schwanken. Ohne Vorwarnungen schaukeln wir auf hoher See des vergangenen realen Sozialismus. Auch geographisch werden wir auf die Folter gespannt, manchmal müssen wir den Text lesen „wie ein offenes Buch“ und selbst herausfinden, wo wir uns befinden. Jedenfalls wissen wir immer, daß wir diese 18 Reisegeschichten hinter dem Eisernen Vorhang von Richard Swartz hören. Der Autor von „Roomservice“ zeigt sich in Unterhosen, die er gewöhnlich in seinem Hotelzimmer trägt, mit seiner feinen Nase, und mit der sensiblen Berichterstattung bezüglich der Qualität des Rasierwassers einiger männlicher Personen, die wir durch seine Geschichten kennenlernen. Von Schuhen und Pullovern versteht er auch etwas, ob er aber schwul, verheiratet oder verliebt ist, das hat nicht einmal die Stasi herausfinden können. 1945 in Stockholm geboren, lebt er seit fast 30 Jahren als Osteuropakorrespondent von Svenska Dagbladet in Wien und Sovinjak (Istrien).

Im Zug zwischen Cottbus und Berlin machte ich den Versuch, die erste Geschichte, „Wie man Städte zerstört“, zu lesen. Auf Seite 23 war ich in Cottbus schlafend angekommen. Auch zurück nach Berlin ging es nicht besser. Die beinahe hermetische Grenze des ehemaligen Eisernen Vorhangs zu überschreiten und in Prag ausgerechnet mit diesem Dozenten Klima zusammenzutreffen, das erinnerte mich an eine Reise nach Prag in den frühen siebziger Jahren. „Auch Stille wurde in Prag unterdrückt, diese Stille, aus der nur allzuleicht neue Töne entstehen können.“ Und der Finger der Portierstochter blieb stehen bei dem Wort: zaknout, verhaften.

Ich habe lange darüber nachgedacht, warum diese erste Geschichte, die übrigens aus drei Geschichten besteht, so zäh, so grau, so real sozialistisch wirkt wie in Formalin eingelegtes Leben. Todgelb. Mag sein, daß es der Rhythmus ist, kein Ziel, kein Fixpunkt, Monotonie. Nicht Stille.

Zögernd und etwas widerwillig reihen wir uns in die Wartenden ein. „Zeit, die man mit Warten verbringt, ist wie ein leeres Glas, das über die Wartenden gestülpt wird.“

Warten und Bewegungslosigkeit sind auch die Themen bei „King of the road“. Der Zigeunerkönig, Ioan Çioba interessiert sich zudem für Fragen der Sicherheit. „Auch im Mund hat der König Gold; aber nicht irgendwo ... sondern ganz vorn ... vier Zähne nebeneinander und ganz aus Gold. Ab und zu berührt er sie mit der Zungenspitze, in diesem Land wird alles gestohlen.“

In 18 Miniaturen werden wir in den Mikrokosmos der anderen Seite eingeweiht. Wir stehen an einem kleinen Fenster und folgen Richard Swartz bei seinen Recherchen. Er gewöhnt uns an die anderen zeitlichen Perspektiven und notwendigen Arrangements. Hinter der grauen Oberfläche erwartet uns nicht eine lauschige Nische, sondern der schonungslose, kalte Blick. Auf das eigene und das fremde Leben.

Natürlich hat Swartz eine Akte. 512 Seiten. Seit 1977 wurde er unter dem phantasievollen Namen „Black“ geführt. In Begleitung einer unbekannten weiblichen Person wird er auf dem Flughafen Schönefeld beobachtet und fotografiert. War Inge Heym der Stasi nicht bekannt?

In Przemysl stellt sich heraus, daß die Koordinaten verschoben sind und „daß Przemysl nicht mehr in der Mitte Europas liegt, sondern an seinem Rande, dort, wo Europa endet.“ Das ist eine meiner Lieblingsgeschichten. Etwas ist in melancholische Bewegung geraten, unser Dorf soll schöner werden, es gibt kein Hotel, und die polnische Pensionswirtin weiß, was sie denen aus der Ukraine schuldig ist.

Alle sind beladen auf diesem Platz in Przemysl, nur Swartz trägt nichts als seine Westklamotten, ein Nicht-dazu-Gehörender, ihres Hasses nicht würdig.

Im seltsamen Land wird man von fremden Männern in dunklen Anzügen unter Palmen empfangen. Sie sagen: „Welcome my friend.“ Wo sind wir? Käfige mit Singvögeln in der Halle und im Speisesaal. Es gab Ferghes, eine Art Leberauflauf. Könnte es Albanien sein? Obwohl Ferghes eher ungarisch oder bulgarisch oder makedonisch klingt. Das Hotel heißt Moskwa. Das spricht gegen Albanien. In der Bar sitzen die auffallend kleinen Schriftsteller und trinken Kaffee.

Dann gab es kein Vanilleeis mehr. Der room service des Hotels funktionierte nicht. Der Kaffee und die Gäste in der Bar verschwanden. Auf der Straße verschwanden die Statuen. Sie waren hohl.

In Bukarest schneit es. Frau Maria massierte die Ceaușescus. Sie erzählt uns, N. C. konnte das Essen nicht bei sich behalten.

Lola. „Lola war statt dieses Deutschen gestorben, den sie mich seit Jahren zu erschlagen bat ... mich hatte sie dazu auserkoren. Die junge Lola hatte Orte kennengelernt, von denen ich nichts wußte. Dann starb Lolas ehemaliger Arbeitgeber. Er war beim Baden im Meer ertrunken ... Lola hatte Mengele zweimal Auge in Auge gegenübergestanden.“

Das Ende in Wien: „Die beiden oberen Schneidezähne werden entblößt: rotverschmiert, dazwischen ein schwarzer Spalt“.

„Inge, was sagen wir dazu?“ Richard Swartz ist ein aufmerksamer und genauer Chronist. Ironisch und kühl zerrt er scheinbare Nebensächlichkeiten ans Licht und versetzt uns in ein Schwanken zwischen Erkenntnis und Entsetzen. Ein halbes Leben hat er mitgelebt in der Gegenwelt. Hat er gesucht, was er gefunden hat?

Diese Zeitreise ist zu Ende – wir stehen vor der Leiche und sind nicht sicher, ob es sich um einen natürlichen Tod oder um Mord handelt. Mit präzisen Schnitten öffnet Swartz das kollektive Gedächtnis. Ob als Gerichtsmediziner oder Pathologe ist gleichgültig. Was da ans Licht kommt, ist nicht angenehm, aber es ist ein Teil unserer Geschichte. Ein wahres Buch fürs Weihnachtsfest.

Richard Swartz: „Roomservice, Geschichten aus Europas Nahem Osten“, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1996, Die Andere Bibliothek, 369 Seiten, 58 DM