Die Pop-art stammt aus den Karpaten

■ Das Warhol-Museum im östlichsten Winkel der Slowakei, in Medzilaborce

Nationalpark Waldkarpaten an der Grenze zwischen der Slowakei und Polen. Eine schorfige Straße und eine einspurige Eisenbahn führen nach Medzilaborce im alleröstlichsten Winkel des Landes. Endstation. Lehmige Straßen verzweigen sich von der Stadt zu verstreuten Dörfern am Südhang des Grenzkamms. Kein Personenzug verkehrt auf dem Schienenstrang, der über die Beskiden nach Sanok im polnischen Galizien weiterläuft. Randlage, Abgeschnittenheit, die Grenze unterbricht Verbindungen. Großspurig verkündet ein Plakat auf dem Bahnhof die „Europaregion Karpaten“, auf der Bank darunter sitzen ein paar ältere Männer. Der nervöse Homo atlanticus, der schon während der langen Eisenbahnfahrt mißbilligend den Knoblauchgeruch des Homo continentalis geschnüffelt hat, registriert: Zigeuner, Dreck, Unkraut zwischen den Gleisen, Kneipen mit schlechtem Service und Hinterwäldlertum, kurz gesagt, Osten, tiefer Osten, klebrig- altmodischer Osten.

Hinter verrosteten Gleisen liegt die Gaststätte „Bei mir“, in der eine junge rothaarige Wirtin den Bahnarbeitern Bier ausschenkt. Auf dem uralten Plattenspieler von erlesener sozrealistischer Ästhetik drehen sich beschwingte Platten mit slowakischer Volksmusik. Kommt ein Fremder herein, wird gewechselt, dann gibt's Velvet Underground, Lou Reed säuselt ein Liedchen vom tschechoslowakischen Hausmeister in Pittsburgh, und die Arbeiter nicken bedächtig dazu; zwar verstehen sie kein Englisch, aber sie wissen, da ist einer der Ihren gemeint. Der nervöse Atlantiker indes rümpft die Nase ob des dreisten ukrainischen Pfeifentabaks und registriert nur flüchtig das seinem Ohr geläufige Musikmuster. Nichts versteht er vom Sinn dieser musikalischen Hommage, wahrscheinlich faßt er den platten Gedanken, daß die Normalisierung, sprich: Verwestlichung sogar schon bis zu diesem Kaff vorgedrungen ist.

Der Atlanticus hat touristische Pflichten zu erfüllen, zielstrebig schreitet er auf ein zweistöckiges Gebäude aus weißem Stein zu, dessen Eingang von zwei Säulen besonderer Art flankiert wird, von zwei riesigen Suppendosen aus der Blütezeit der New Yorker Pop-art. Denn das ostslowakische Städtchen hat in seinem Museum für moderne Kunst die größte öffentliche Andy-Warhol-Sammlung außerhalb den USA zu bieten. Dreizehn Originale gibt es da zu besichtigen, die Campbell's Soup Can, Absolut Wodka, zwei Bilder aus der Lenin-Serie, Siebdrucke von Ingrid Bergman, aber auch Werke der Verwandtschaft, wie Mutter Julias nachgezeichnete Cherubine.

Die Heimat seiner Vorfahren hat Andrejko jun. Warhola (1928–1987) selbst nie besucht. Seine Eltern sind aus dieser Gegend, wie so viele ihrer Landsleute, vor über 70 Jahren nach Amerika ausgewandert. Ihre Story ist eine der ganz gewöhnlichen Emigrantengeschichten dieser Zeit. Andy Warhols Vater Andrejko sen. findet aufgrund der Wirtschaftskrise zu Beginn des Jahrhunderts keine Arbeit als Bergmann, er geht in die USA, dorthin, wo schon so viele tschechische, slowakische und ruthenische Habenichtse gelandet sind, in die Kohlenminen von Pennsylvania. Einmal kehrt er noch zurück, 1912, um die 16jährige Julia Zavacka zu ehelichen. Um der Einberufung zur Habsburger Armee zu entgehen, verläßt er die schwangere Ehefrau und kehrt nach Pittsburgh zurück. Erst nach dem Ersten Weltkrieg kann Julia dank eines Darlehens des Dorfpfaffen ihrem Mann nachfolgen: eine Odyssee mit Pferdefuhrwerken, Holzbankwaggons und einem polnischen Seelenverkäufer, der Emigranten über den Ozean karrt. Nächste Station ist eine armselige Mietskaserne in Pittsburgh in einem Einwandererslum: drei Söhne, der Mann Gelegenheitsarbeiter auf dem Bau, oft bleibt der Herd kalt und der Suppentopf leer; glaubt man Lou Reed, dann bringt manchmal der tschechoslowakische Hausmeister Lebensmittel und Bier. Julia koloriert Heiligenbilder und Ansichtskarten und sucht Trost in der ruthenisch-katholischen Kirche von Pittsburgh, während sich Andy über die Farben hermacht, um der Michelangelo von Pittsburgh zu werden – den weiteren Lauf der Geschichte kennt man, Pop-art, Velvet, Factory, Massenproduktion von Kunst, T-Shirts mit dem Monroe- oder Hammer-und-Sichel-Aufdruck, Trash, shocking. Geschockt ist auch Julias Schwester Eva Zavacka bei ihrem Besuch in Warhols New Yorker Domizil, denn ihr Neffe scheint seine slowakische Abstammung zu verleugnen, er will amerikanischer sein als die Amerikaner. Als er das Land seiner Vorfahren besuchen will, durchkreuzt sein früher Tod die Absicht. In seinem Testament verfügt er die Errichtung einer Schule für künstlerisch begabte Slowaken und eines Museums für moderne Kunst.

In diesem Museum ergeht sich nun der Homo atlanticus und schwelgt in sentimentalen Erinnerungen an die gute alte 68er Zeit, als noch alles revolutioniert wurde, die bürgerliche Familie durch die Kommunen, die Musik durch den Beat, die Sexualität durch die (männlichen) Studenten und die Malerei durch Andy Warhol, oder? Wahrscheinlich regt die Hintergrundmusik zu solcherlei Phantasien an, ist das nicht...? Natürlich ist das Velvet Underground, sind das John Cale und Lou Reed mit ihrer Post-Velvet- Platte „Songs für Drella“, diese Erinnerungsplatte an Andy Warhol. Noch einmal lebt hier, im ostslowakischen Medzilaborce, Warhols Factory auf, singt Lou Reed die Pittsburgher Geschichte vom „Open House“ mit dem tschechoslowakischen Hausmeister, und jetzt dämmert dem Atlanticus, warum die Arbeiter in der Kneipe „Bei mir“ den Velvets so andächtig gelauscht haben, auch wenn sie kein Englisch können. Es mag wohl weniger an Andy Warhol liegen, wohl aber an der Geschichte von Julia und Andrejka Warhola, die auch die ihre sein könnte. Denn auch heute träumt jeder zweite hier vom Auswandern.