RAF und Take That

Die neuen ARD-Jugendradios könnten strategische Bedeutung für den Gebührenfunk haben  ■ Von Lutz Meier

Aufgemerkt, liebe junge Leser: Tanzt kein Techno, hört nicht Fritz, denn der Turbokapitalismus brummt euch ganze Generation in den sozialen Abstieg.

Erst hatten die Macher der neuen ARD-Jugendradios vom Schlage EinsLive, Fritz und N-joy viel Mühe darauf verwandt, alle pädagogischen Absichten aus dem „Sound der Neunziger“ (N-joy- Werbung) zu bannen – nun fragt sie der Bielefelder Soziologe und Jugendforscher Wilhelm Heitmeyer, „ob Sie durch diese Programme die letzten Chancen zu einer demokratischen Kollektivbewegung verhindern“.

Eigentlich eine uralte Geschichte: Es war 1954, da strömte die Jugend – „die Jungen im Anzug, die Mädchen in wadenlangen Röcken“, wie Hörzu damals wußte – ins Funkhaus des NWDR zum „Abend für junge Hörer“. Gerade hatten Soziologen festgestellt, daß es mit der Gesellschaft den Bach runtergehe, wenn man sich nicht schleunigst integrierend um die Jugend kümmere. Schon damals stand der instrumentelle Zweck im Hintergrund – die Wirkung war wie immer: Die Mühen der Erwachseneninstitution NWDR zogen bei der Jugend nicht. Bergab ging es aber trotzdem nicht. Später liefen auch die emanzipatorischen Jugendinseln, die WDR-„Radiothek“ oder der „sf-beat“ nach dem Motto ab: „Wir klären auf, und keine Sau hört zu.“

Mit denen hatte es zudem eine Menge Ärger gegeben, darum befaßte man sich in der ARD erst in den Neunzigern wieder mit der Jugend. Diesmal trieb nicht Soziologie, sondern Überlebenswille die Anstalten der Erwachsenen: Die Öffentlich-Rechtlichen mußten sich plötzlich nach einer Legitimation umsehen, blickten an sich herunter und stellten fest: Sie waren zu verdammt alten Tanten geworden. Wenn überhaupt, schalteten die Jungen die Klänge der privaten Konkurrenz ein, die die ARD-Radios zunächst hilflos zu imitieren begannen – mehr schlecht als echt. Auch als man daranging, die verlorene Jugend mit neuen Vollprogrammen zu fangen, schien zunächst das der Weg: Der NDR kaufte einen großen digitalen Sendekasten, programmierte ihn mit Chartstiteln, packte ein paar Moderatoren von der Konkurrenz dazu und nannte das Ganze 1994 NDR-unlikely „N-joy-Radio“ – mit ansehnlichem Erfolg.

Zuerst der Potsdamer ORB (1992), dann auch der WDR (1995) sind anders vorgegangen. Im ORB-Jugendsender Fritz ist allnächtlich drei Stunden am Stück Wort pur zu hören, wenn auf der Talkschiene „Blue Moon“ bar jeden Bildungsballasts über die RAF oder Take That, über Stolz oder „das erste Mal“ gesprochen wird. Und morgens hören auf dem umkämpften Berlin-Brandenburger Radiomarkt schon mal satt über 100.000 junge Menschen zu, wenn die Hörer – Heitmeyer könnte sich freuen – zu HipHop-KLängen über Revolution und Musik räsonieren. Auch musikalisch kommen Innovationen wieder aus dem Radio. Ob's Drum and Bass ist oder deutscher Rap – immer öfter setzen Gebühren-DJs den Trend.

Die ARD-Sender hätten ihren Erfolg mit dem Prinzip „Auschwitz und DJ Bobo“ erkauft, mokierte sich ein Feuilleton. Genau das sei es, gab der EinsLive- Chef zu, als auf den „Frankfurter Hörfunkgesprächen“ des Grimme-Instituts über die neuen Jugendradios diskutiert wurde. Einen ganzen Tag hatte „EinsLive“ aus der KZ-Gedenkstätte berichtet und mit seinen Hörern über den Holocaust diskutiert. Wer mache solches denn sonst noch?

Derlei sei keine Einzelaktion, so Baars' Potsdamer Fritz-Kollege Helmut Lehnert: Nur mit Themenschwerpunkten könne man in den Tagen der Informationsflut hintergründig bleiben. Baars: „Wir haben das Medium wieder zu einem Faktor gemacht“ – in den Schulen und in den Clubs werde wie zu Zeiten der TV-Straßenfeger über „EinsLive“-Themen gesprochen. Nur eine der integrativen Leistungen dieser Sender, die ihren Hörern das Ertragen der unterschiedlichsten Musikstile abverlangen – was diese auch geduldig tun, wenn nur auch einmal die persönliche Vorliebe bedient wird. Die Publizistin Katharina Rutschky nennt eine andere Leistung: „die Einbindung der Unterschichtjugendlichen in die Öffentlichkeit“. Hier meldeten sich auch Menschen zu Wort, die es sonst nie bekämen.

So könnte der Erfolg ihrer unsicher beäugten Jugendschienen den ARD-Sendern einen Ausweg aus dem Hin- und Herlavieren zwischen Marginalisierungsfalle und Konvergenzfalle zeigen: Nur wer aus der öffentlich-rechtlichen Struktur einen Mehrwert ableitet, der Hör-Erfolge zeitigt, gibt dem Gebührenfunk neuen Grund.

Der ORB scheint diese strategische Lehre erkannt zu haben: Dort plant man jetzt ein Fritz-TV und ein anspruchsvolles Musikradio für Fünfundzwanzig- bis Vierzigjährige. Arbeitstitel: Fritz-Plus. Lutz Meier