■ Zehn Jahre Kachelzählen in endlosen 50-Meter-Bahnen
: Chloroide Adoleszenz

Kacheln, immer diese Kacheln, dachte ich, und da wurde mir unwiderruflich klar: Es muß aufhören! Das war mit fünfzehn. Hinter mir lagen zehn Jahre Schwimmsport. Zehn Jahre Training im Dienste der Verbesserung persönlicher Bestzeiten, zehn Jahre periodisch wiederkehrender Nervosität, zehn Jahre, die dem Erschwimmen und Einsammeln kleiner Kartons, auf denen „Urkunde“ stand, und noch kleinerer Plastik- oder Blechmedaillen galten. Unterm Strich: zehn Jahre Chlor. Und ein zehnjähriger Kampf mit der Chlorbrille, viermal pro Woche. Freitags durften wir Medizinbälle stemmen.

Auf dem Weg zum Bad ging mir allerhand durch den Kopf, als gelte es, die letzte Viertelstunde vor dem Sprung ins Chlorwasser, das von rot-weißen Plastikleinen unterteilt und im Raum, dort, wo der Blick während der durchschnittlichen achtzig Bahnen pro Stunde seinen Halt findet, von Kacheln begrenzt ist, von 72,8 Millionen Kacheln pro Becken, ich habe sie gezählt – als gelte es also, sein Sportler- und Musikschülerleben zu begreifen noch vor jenen im Winter 25 Meter langen Hallen-, zur Sommerszeit arschkühlen und endlosen 50-Meter-Freibadbahnen. Denn jeder Schwimmer weiß, es sind die Wenden, die kurze Atempausen gewähren und von denen jede einzelne Glück und Enttäuschung verheißt, Zuversicht, einen der doch überschaubaren Abschnitte hinter sich gelassen zu haben, Vorahnung aber zugleich, daß es im Prinzip nicht aufhört. Eine plastischere Vorstellung über die Unendlichkeit im Endlichen dürfte es schwerlich geben.

Der Trainer, ein wüster Choleriker, schreitet den Beckenrand ab und brüllt ins aufgewühlte Wasser hinunter, tadelt den ungleichmäßigen Scherenschlag beim Brustschwimmen, laues Beinependeln im Crawl-Stil. Man hört's nicht. Öfter kürzte ich ab, machte zwei Meter vor der Wende kehrt. Zwischenzeitlicher Vereinsausschluß war die Folge, was daheim zu Ungemach führte. Ich entwickelte Einsicht und fortan, weil die Arme schneller wuchsen als bei anderen, ein gewisses Talent für die mörderischen Strecken, die 100 und 200 Meter Schmetterling. Suspendiert wurde ich dennoch weder von Freistil-Serien (10 mal 100 Meter in zwei Minuten) noch von Arm- respektive Beinprogrammen, für die man ein Weichplastebrett entweder zwischen die Knie zu klemmen oder mit den Händen festzuhalten hatte. Die freigebliebenen Extremitäten wühlten sich dann durchs Chlorwasser, bis sie arg schmerzten. Waren die Arme dran, wippte der Kopf auf und ab, und die Kacheln zogen lediglich mählich da unten vorbei.

Der Katalog des Leidens ist lang. Die Badebux rutschte, sprang man mannstoll ins Becken, Überholtwerden durch Ältere: eine Demütigung. Strömendes Blut, weil eine Rückenrollwende mißlang und die Hand gegen den Beckenrand schlug. Wochenendlanges Warten auf zwei, drei Einsätze, dazwischen Wurstbrote und quadratische Traubenzuckerplättchen. Im Magen zuckte es, der Belag des Startblocks glich Sandpapier, auf den letzten Metern brach man ein. Nach dem Anschlag Vierter mit Zeitverbesserung. Fürchterliches Heimweh. Wie tot im Frottébademantel herumhocken, während Bundesliga lief und Limo-Parties stiegen. Und eine Chlorbrille, die beim Start ihre Haftung einbüßte, auf daß über Lob und Tadel entscheidende siebzig Sekunden lang Chlorwasser vor dem Auge schwappte.

Danach durften wir eine Stunde warm duschen. Und das war eine rechte Wohligkeit. Man könnte's beinahe missen. Nur die Kacheln... Jürgen Roth