■ Schlagloch
: Nicht nur zur Weihnachtszeit Von Nadja Klinger

Dies ist die Geschichte einer Schallplatte. Es ist die einzige, die meine Großmutter aufgehoben hat, nachdem der Großvater von ihr gegangen war. Sie heißt „Weihnachten in Familie“ und liegt immer auf dem Plattenteller. Die Großmutter, die behauptet, sie könne keine Schallplatten auflegen, braucht nur den roten Knopf am Gerät zu drücken. So kann sie, die sehr einsam lebt, es sich jederzeit etwas schön machen. „Weihnachten in Familie, bist du einmal allein“, tönt es im Sommer wie im Winter in ihrer Stube, „wir wollen in Gedanken alle bei dir sein.“

In der DDR wurde die Platte 1,6 Millionen Mal verkauft. Sie war Kult. Während andere alte Weihnachtslieder davon erzählten, daß Freundlichkeit und Zuwendung nur noch in den Sehnsüchten zu finden sind, tröstete „Weihnachten in Familie“ über die unfreundliche Wirklichkeit hinweg. Frank Schöbel und seine Frau Aurora Lacasa sangen mit ihren kleinen Töchtern die alten Lieder neu. Die Frohe Botschaft war: Es ist alles in Ordnung, denn wir haben ja uns.

Auch nach der DDR bewährte sich diese Botschaft als gutgehendes Weihnachtsgeschäft. Seit vier Jahren findet der Heilige Abend beim MDR mit Familie Schöbel statt. Vor zwei Jahren erschien eine Neuauflage der Schallplatte als CD. Aus den kleinen Töchtern wurden junge Frauen, aus der Ehe der Eltern eine Trennung. Im Sommer liefen Frank Schöbel und Aurora Lacasa auseinander. Dieses Jahr gibt es kein „Weihnachten in Familie“ mehr. Und keinen Trost. Fernsehen und Plattenfirma verkraften den geschäftlichen Verlust nur schwer. So wie das Publikum den seelischen. Denn Weihnachten will es sich mit guten Gefühlen einbalsamieren. Etwa damit: Die Großmutter ist einsam, aber wir sind in Gedanken bei ihr.

Das Ende von „Weihnachten in Familie“ fällt zusammen mit dem Jahr, als meine Großmutter es verlernt hat, sich alleine vom Bett zum Plattenspieler zu bewegen. Sie kann den roten Knopf nicht mehr drücken. So wird aus der Geschichte von der Schallplatte unverhofft die Geschichte von meiner Großmutter.

Es sieht so aus, als könnten Weihnachtslieder unsere Sehnsucht nach Harmonie stillen. Vielleicht war die Geschichte von der Schallplatte ja nur eine Mogelpackung. So wie das Telefon eine Mogelpackung ist, indem es uns glauben läßt, wir seien für Großmutter da, wenn wir mit ihr telefonieren. So wie Kontovollmacht und Rechtsanwalt welche sind, weil sie anscheinend die Probleme der Großmutter lösen. So wie die Pflegeversicherung eine ist, indem sie vorgibt, den Alten zu helfen, ihr Leben weiterzuleben.

Irgendwann konnte meine Großmutter sich nicht mehr richtig bewegen. Unsere Briefe und Anrufe halfen ihr nicht auf die Beine. Also organisierten meine Mutter und ich warmes Essen, eine Schwester, eine Haushaltshilfe und beantragten die erste Pflegestufe. Eine Ärztin des Medizinischen Dienstes der AOK breitete auf dem Stubentisch meiner Großmutter einen Fragebogen aus. Die alte Frau sollte mit ja oder nein antworten, das brachte ihr Punkte, nach denen sie in die Kategorie „erheblich pflegebedürftig“ eingeordnet wurde oder nicht. „Haben Sie sich diese Woche schon gewaschen?“ fragte die Ärztin. Die Großmutter, peinlich berührt, bejahte. „Fällt Ihnen der Belag von der Stulle?“ Die Großmutter winkte ab. „Machen Sie unter sich?“ Sie wollte die Ärztin möglichst schnell vergessen.

Das ging nicht, denn die erste Pflegestufe wurde abgelehnt. Die Sozialstation, die die Großmutter längst „erheblich“ pflegte, legte Widerspruch ein. Es vergingen Monate, dann kam ein Arzt, der nicht dem Medizinischen Dienst der AOK verpflichtet war. Er bepunktete die Großmutter nicht, sondern redete mit ihr. Und bestätigte die Pflege.

Die Großmutter war nun ein gesetzlich anerkannter Fall, Teil eines Dienstplans. Morgens krampfte sie alle noch funktionierenden Muskeln zusammen, um nicht einzupullern, ehe man sie aus dem Bett holte. Sie ertrug es, daß die Zivildienstleistenden sie in ihren schlaffen Unterhosen sahen. Sie saß im Zimmer auf dem Toilettenstuhl, die Schwester wirbelte um sie herum, und sie träumte von ihrem eiskalten Außenklo, wo sie bei der Verrichtung ihrer Geschäfte allein gewesen war.

Die Großmutter erhielt siebenhundertfünfzig Mark Pflegeversicherung. Ab und zu stand sie allein auf, stürzte und lag am Boden, manchmal eine ganze Nacht. Die Schwestern mußten öfter helfen, das Geld reichte nicht. Sie beantragten die zweite Pflegestufe, denn die Großmutter war längst „schwer pflegebedürftig“. So sah es die AOK. Eine Ärztin zerrte sie vom Bett in den Sessel und sammelte Punkte: „Sind die Windeln immer voll oder nur manchmal?“ „Können Sie sich zwischen die Beine fassen?“ „Kriegen Sie Ihre Zähne alleine in den Mund?“ Großmutter wies schon die Fragen von sich. „Wieder alles falsch gemacht“, sagte sie.

Tage später machte sie alles richtig. Sie stürzte die Treppe hinunter. Als die Schwester kam, war das Blut unter ihr schon festgeklebt. Aus dem Krankenhaus wollten die Ärzte sie nicht mehr nach Hause lassen, da sie Tag und Nacht betreut werden müsse. Dritte (!) Pflegestufe nennt das Gesetz diesen Zustand. Doch die Großmutter wollte auf ihrem Sofa sterben.

Seit 1995 wandert viel Geld in die Kassen der Pflegeversicherung. Auf das, was nicht gebraucht wird, wirft der Bundesfinanzminister ein Auge. Es ist daher eine im Gesetzestext nicht ausgedruckte Selbstverständlichkeit, die Zahl der Pflegebedürftigen und die Höhe der Leistungen so gering wie möglich zu halten. Im Heim sind die Alten billiger. Ein Rechtsanwalt mußte uns helfen, die Großmutter nach Hause zu bekommen.

Dort wartete schon ein Brief. Die zweite (!) Pflegestufe war abgelehnt. Auf unseren Widerspruch hin kam die Ärztin von der AOK noch einmal. „Können Sie den Arm heben?“ Die Großmutter gab ihr die Hand. „Können Sie das Bein heben?“ Großmutter kroch mit dem Fuß in ihren Hausschuh. „Abgelehnt“, sagte die Ärztin. Das Urteil wich von dem des Krankenhauses ab. „Das Krankenhaus behandelt, die Kasse entscheidet“, sagte die Ärztin.

Großmutter hat all ihr Geld locker gemacht, damit die Sozialstation sie weiter betreut. Lange reicht es nicht. Wir können nicht einspringen. Privatpersonen bekommen für Pflege keinen Pfennig. Doch Großmutter ist stolz, daß sie nicht in das Punktesystem der Krankenkassen paßt. Sie stellt Dinge an, die in Fragebögen nicht vorkommen. Sie lernt laufen, um zu stürzen. Sie kackt ein und reißt sich die Windel vom Gesäß. Sie rutscht aus dem Bett, schlägt sich den Steiß auf und wartet.

In der Weihnachtszeit macht sie es sich wieder besonders schön. Sie schleppt sich zum Herd und kocht Essen. Sie legt eine Tüte Fertigsuppe auf die heiße Elektroplatte. Vielleicht schleppt sie sich sogar noch zum Plattenspieler und drückt den roten Knopf. „Wir wollen in Gedanken alle bei dir sein“, tönt es. Und die Großmutter hat es noch ein bißchen schön, bevor die Suppe brennt.

„Das Gesetz ist gut, nur die Menschen passen nicht rein.“ Claus Fussek, Leiter des ambulanten Münchner Pflegedienstes Vereinigung Integrationsförderung e.V., „Die Zeit“, November 1996