Morgens lächelt Juliette

Stadt im Film (VIII): Obwohl es die schönste Stadt der Welt ist, bleiben die Fremden partout nicht dort. In Paris ankommen, Paris geschlagen verlassen und trotzdem schön aussehen  ■ Von Anja Seeliger

Juliette fängt an zu träumen – von einer Stadt, Paris vielleicht. Sie ist mit dem Flußschiffer Jean verheiratet. Direkt nach der Trauung war die ganze Hochzeitsgesellschaft zum Fluß marschiert, da legte der Kahn auch schon ab. Das Alltagsleben besteht aus einem riesigen Berg Wäsche, endlos kahlen Bäumen, die das Ufer säumen und – Jean. Morgens, wenn sie sich unter ihrem Laken wachräkelt, lächelt Juliette.

Mit auf dem Schiff ist noch Vater Jules, den Juliette für eine kindische alte Schnapsdrossel hält, bis sie eines Tages in seiner Kabine steht. Staunend betrachtet sie die Wunderdinge dort: chinesische Marionetten, spanische Fächer, ein Elfenbeinzahn, Krummdolche, Jules Tätowierungen und eine in Spiritus eingelegte Hand. In dieser Kabine kommt ihr zum erstenmal der Gedanke, daß Jean vielleicht nicht die ganze Welt ist. Von da an träumt sie.

Eines Tages legt das Schiff an: „Paris“, sagt Jean. Ungläubig sieht Juliette aus ihrer Schiffsluke: Jeans Paris – das ist ein Quai, Lagerhallen, qualmende Fabrikschlote und eine Bretterbude, die sich als Tanzcafé ausgibt. Am nächsten Abend schleicht sich Juliette vom Schiff und fährt mit der Straßenbahn nach Paris. Ungläubig sieht der Zuschauer auf die Leinwand: Juliettes Paris – das sind ein paar Schaufenster. Ihr Blick umfaßt nie mehr als eine Fläche von zwei Quadratmetern, gerade soviel, daß einige Kleiderpuppen und eine Schmuckauslage hineinpassen. Sonst sieht sie nichts! Sie könnte genausogut in Nantes oder Bordeaux sein.

Jean Vigos „L'Atalante“ ist ein wunderbarer Film über die Liebe, aber Paris behandelt er sehr schlecht – bis Vater Jules sich aufmacht, Juliette zu suchen. Plötzlich ist sie da, die Stadt: die Seine, die Boulevards, die Häuser mit den Bleidächern und kleinen Kaminen, das milchige Licht – Paris an einem kalten Wintermorgen. Ausgerechnet mit Jules, der in so vielen Städten war, der keine Erwartungen an Paris hat, kommt die zuvor so arg mißachtete Pracht von Paris ins Bild. Juliette aber ist froh, als er sie wieder zu ihrem Jean bringt.

Sonderbar, wie wenig Paris die Fremden beeindruckt. Nie steht jemand staunend vor der Stadt, wie es so oft in New York geschieht. In Techinés Film „Ich küsse nicht“ fährt Pierrot mit dem Zug aus seinem Kaff in den Pyrenäen nach Paris, um dort Schauspieler zu werden. Als er ankommt, schläft er. In Claire Denis' Film „Ich kann nicht schlafen“ fährt die Litauerin Daiga mit dem Auto nach Paris. Die Autobahn führt lange an häßlichen Wohnblocks vorbei. Plötzlich taucht Sacre C÷ur auf – fast scheint es in dem verhangenen Morgenlicht zu schweben. Daiga wirft einen Blick und zieht dann ungerührt an ihrer Zigarette. Staunen tut nur ein Pariser, der aus seinem Auto den bis an die Decke vollgestopften Wolga anstarrt. Auch der Amerikaner Richard Walker fährt in Polanskis „Frantic“ mit dem Auto in die Stadt hinein. Die ersten Häuser von Paris spiegeln sich in der Scheibe, so daß es aussieht, als würden sie wie Wolken über sein Gesicht ziehen. Langsam verschwindet die Spiegelung, und man ist im Inneren des Wagens, in dem Walker mit seiner Frau sitzt wie in einem schützenden Kokon. Nur einmal wird er aufmerksam – als ein Müllwagen die Straße blockiert. Zugegeben, Paris kennt man, auch wenn man nie dort war. Aber diese vollkommene Gleichgültigkeit gegen die Schönheit von Paris ist seltsam. Als wollte die Kamera sich für die Walkers entschuldigen, entschädigt sie den Zuschauer mit einem besonders spektakulären Blick durchs Rückfenster auf den Invalidendom.

Und schließlich der kleine Bruno, der in Brisseaus „Lärm und Wut“ zu seiner Mutter in die Banlieue von Paris zieht. Er steigt aus der Metro aus und steht vor einigen Wohnsilos. Hier gibt es nur Beton. Erst viel später sieht der Zuschauer ganz nebenbei, daß diese Silos auf einem Hügel liegen, von dem man einen grandiosen Blick auf Paris hat. Nur einmal in diesem Film sieht jemand direkt auf die Stadt. Er sitzt mit einem anderen Mann auf dem Hügel und sagt: „Ich werde nie mehr meinen Arsch hinhalten für die da.“

In Rohmers erstem Spielfilm „Im Zeichen des Löwen“ sieht man den Fremden nicht ankommen, er ist schon da, hat eine Wohnung und Freunde. Wesselrin ist Amerikaner, ein Geiger und Komponist. Eine Erbschaft, die er erwartet, geht an einen Verwandten. Wesselrin fliegt aus seiner Wohnung und kommt immer mehr herunter. Mit fleckigem Jackett, die Sohle mit einem Band am Schuh festgebunden, zieht er über die Boulevards, die kleinen Gassen und die Cafés von Saint Germain und sucht Freunde, die er anpumpen kann. Aber es ist Sommer, fast all seine Freunde sind verreist. Das ist wie mit den Cafés: Man sieht nie einen Pariser, der vergeblich die Aufmerksamkeit eines Kellners zu erregen versucht. Sie heben den Kopf und winken immer genau in dem Moment, wo er zu ihnen hinsieht. Eine unnachahmliche Art, eine Situation elegant zu meistern. So elegant wie im Urlaub sein, wenn ein abgebrannter Freund Geld braucht. Wesselrin dagegen verliert sein Metroticket, das ihm ein Freund geschenkt hat, und muß kilometerweit in die Banlieu laufen, in der Hoffnung auf eine Arbeit. Natürlich wird nichts daraus. Als er zurückkommt in das sonnendurchflutete Saint-Germain, ist sein Anzug schweißnaß, und auf seiner Hose sind noch mehr Flecken. Wesselrin ist das Gegenteil von Eleganz und Schönheit. Er ist lächerlich. In seiner Verzweiflung schlägt er mit den Fäusten gegen die Steine der Häuser: „Dreckige Steine!“

In Paris unglücklich zu sein, ist grausam. In anderen Großstädten gehört das Unglück selbstverständlicher zum Stadtbild, es ist Teil der Stadt. In Paris ist das anders. Hier schämt man sich, nicht weil man es nicht geschafft hat, sondern weil man so häßlich dabei aussieht. Hier sind selbst die Steine schön.

Ähnlich geht es Techinés Held Pierrot: Solange er sich dagegen wehrt, auf den Strich zu gehen, scheint er nur nachts in Paris herumzulaufen. Die Laternen werfen ein rötliches Licht. Als er im Auto seiner Vergewaltigung entgegenfährt, scheint dieses rote Licht auf die Häuserfassaden und spiegelt sich in den Autoscheiben, es sieht aus, als fahre er durch die Hölle. Später, als alles vorbei ist, sitzt er mit seinem Bruder im Bois de Boulogne. Es ist ein strahlender Herbsttag. Die Sonne scheint auf den mißbrauchten Pierrot, als wollte sie einen König schmücken. Wer kann das aushalten?

Die Fremden zieht es oft an die Seine. Wesselrin kommt immer wieder dorthin zurück, und auch Pierrot sitzt dort, wenn er über sein Unglück nachdenkt. Die Seine – das ist wie Zuhause. Rohmer und Techiné haben sie gefilmt, daß man sich auf dem Land glaubt. Die hohen Quaimauern und die Bäume dahinter verbergen die Stadt vollkommen. Und als der Amerikaner Walker in „Frantic“ nach einer Schlägerei auf einem Hausboot aufwacht, sieht er als erstes die Freiheitsstatue, die hinter dem Eiffelturm an der Seine steht.

Obwohl Paris die schönste Stadt der Welt ist, bleiben die Fremden nicht dort. Bis auf Wesselrin, der doch noch zu seiner Erbschaft kommt, verlassen sie am Ende geschlagen Paris. Keiner sieht zurück. Als Pariser, so scheint es, kann man nur geboren werden.