Freie Radikale

■ Das Berliner Ensemble hat den Regisseur Einar Schleef fristlos entlassen

Vergeßt das Deutsche Theater, die Volksbühne und die Schaubühne – das wahre Repräsentationstheater der Hauptstadt ist das Berliner Ensemble! Denn wohl stehen die drei erstgenannten eindeutig für das Lebensgefühl ihres jeweiligen Publikums, im Berliner Ensemble aber manifestiert sich des Volkes Innerstes. Natürlich nicht auf der Bühne. Aber in dem Maße, wie Psychologie in der Ästhetik vermieden wird, erfüllt sie seit Jahren das Geschehen an den Rändern.

Die Grabenkämpfe zwischen Peter Zadek und Heiner Müller, die strittige Eigentumsfrage und Rolf Hochhuths erfolgreiche Maulwurfarbeit, die Volkstrauerlichkeiten nach dem Tode Heiner Müllers, die Unlust des neuen Intendanten Martin Wuttke, Intendant zu sein, die Rechteverweigerung der Brecht-Erben – all das zeigt ganz unverbrämt, wie Geschichts-, Politik- und Theaterverständnisse der verschiedensten Generationen aus Ost und West hier nicht zueinander finden. Kurzfristig harmonisiert durch die Alleinherrschaft der Projektionsfigur Müller, ist seit seinem Tod alles, was in diesem Haus überhaupt zustande kommt, Kompromiß auf dem kleinsten Nenner. Damit der Vorhang hochgeht, muß zusammengearbeitet werden.

Und da kam nun Einar Schleef daher und ließ Ende November fünf seiner „Puntila“-Aufführungen ausfallen! In einer Situation, in der Wuttke dem Kultursenator ein Ultimatum gestellt hatte: Er würde zurücktreten, falls er im November keinen Vertrag bis ins Jahr 2002 bekäme! Schleefs Vorgehen war erpresserisch. Offenbar ging es um die Probenbedingungen für seine Inszenierung von Hauptmanns „Die Weber“. Erpresserisch, verantwortungslos – und ehrlich.

Am BE hängt er nicht besonders, allenfalls an Martin Wuttke, mit dem er seit Jahren arbeitet. Schon die Auseinandersetzung zwischen Zadek und Müller kulminierte in der Einschätzung von Schleefs Inszenierung von Hochhuths „Wessis in Weimar“, von der sich auch der Autor distanzierte. Künstlerisch und im Umgang ist Schleef eine radikale Natur. An die Wurzeln gehend und so reaktionsbereit, daß festere Anbindungen gar nicht von Dauer sein können.

Mit der Entscheidung, Schleef für seine Auftrittsweigerung zu entlassen, haben sich Wuttke und das Direktorium am Dienstag für eine strukturelle Konsolidierung ausgesprochen. Der Senator wird das ebenso begrüßen wie die Brecht-Erben, Hochhuth und das Restensemble, das pünktlich auf der Bühne zu erscheinen pflegt. Gleichzeitig war Schleef, der den Theateralltag immer wieder gesprengt hätte, die einzige Hoffnung des BE, sich künstlerisch eigenständig zu positionieren.

Ob Martin Wuttke sich mit dem Senator über die Zukunftssicherung des Theaters einigen kann, oder ob er zurücktritt, wird sich spätestens heute entscheiden. Bleibt er, wird die Nachwendezeit im Berliner Theater für beendet erklärt – ein Privattheater muß sich dann irgendwie zwischen Verdrängtem und halbherziger Emphase einrichten. Geht er, gibt er – trotz Schleefs Entlassung – offen zu, daß es in der Mitte der Hauptstadt für Dienst nach Vorschrift noch zu früh ist. Petra Kohse