Lärm ist auch Musik

Von der Schwierigkeit, im Zentrum von Sankt Petersburg ein freies Kulturhaus am Leben zu halten – „Pushkinskaya 10“-Künstler zu Gast in Berlin  ■ Von Daniel Bax

Weiße Nächte, das sind in Sankt Petersburg jene polaren Mittsommernächte, in denen es nicht dunkel wird. Dann wird die Nacht zum Tag, auch im übertragenen Sinne, und Massen von Touristen aus aller Welt zieht es in die Stadt. „Schwarze Nächte“ hingegen heißt eine Reihe von Veranstaltungen, mit denen sich das erste und einzige unabhängige Petersburger Kulturzentrum in der „Pushkinskaya ulica desjat“, der Puschkinstraße 10, in Berlin präsentiert. Auch das Kulturhaus ist ein Publikumsmagnet, aber eins der alternativen Art. „Wir wollen mit dem Titel bewußt auf die dunklere, unbekannte Seite Petersburgs aufmerksam machen“, verweist Gogo Gordon, der Berliner Veranstalter, auf die kreative Underground- Szene der Stadt, der auch das Projekt in der Puschkinstraße entspringt, und die sich derzeit in der Lychener Straße 60 vorstellt.

Den Auftakt in den ausgebauten Kellerräumen der Lychener Straße machte bereits am vergangenen Freitag die Ambient-Trance-Formation Ole Lukkoye, die ethnische Klänge aus Südsibirien in einen rauschhaften, modern- psychedelischen Elektronik-Mix einfließen läßt und sich an den schamanistischen Praktiken jener Region ein Vorbild nimmt für die eigenen Exzesse: Trans-Sibirian Underground also.

Heute abend wird jedoch Nick Sudnick, eine Hälfte der „Post-Industrial“-Gruppe ZGA, gemeinsam mit dem Musiker Roland Shalamberidze, als „Out of ZGA“- Duo mit selbstgebauten Instrumenten und Klangobjekten antreten, um den Prenzlauer Berg das Fürchten zu lehren. Er produziere „reinen Lärm“, proklamiert Nick Sudnick, „aber manchmal klingt Lärm ja wie Musik“, zumal sich bei ihm durchaus Spurenelemente klassischer und folkloristischer Musik nachweisen lassen sollen. Zusätzlich wird eine Videodokumentation des Projekts gezeigt.

Die folgenden, letzten beiden Abende werden der schon 1987 gegründeten Tanzcompany Do- Teatr gehören, bestehend aus Evgenji Kozlov, Alexandr Bondarev und Irina Kozlova, deren Arbeit sich an Artauds und Craigs „Theater der Grausamkeit“, aber auch an japanischen Butoh-Traditionen orientiert. Wenn nicht auf Tour, bietet das Do-Teatr in der Petersburger „Pushkinskaya“ auch Workshops und Unterricht an.

Das Kulturzentrum, das von seinen Betreibern eine „Arche des 21. Jahrhunderts“ genannt wird, aber unter der schlichten Adresse „Pushkinskaya ulica“ weit besser bekannt ist, ist eine Art Tacheles auf russisch. Das autonome Petersburger Kulturhaus besteht, derzeit zumindest noch, aus über 100 Ateliers, Proberäumen für Musikgruppen, Büros, Seminarräumen und Galerien, die von klassischer Malerei bis Multimediakunst ein breites Spektrum reflektieren. Da gibt es die „Galerie 103“, die sich traditioneller Kunst widmet, die experimentelle „Salvador Dali Galerie“, ein „Museum für nonkonformistische Kunst“ in Gründung oder auch eine Sammlung sowjetischer Alltagsgegenstände. Eine Fotogalerie soll in Zukunft dazukommen.

Auf sechs Stockwerken und über 13.500 m2 arbeiten Künstler, Musiker und Theatergruppen, publizieren diverse Kleinverlage und sollen bald auch eigene Aufnahmestudios eingerichtet werden. Auf der hauseigenen Theaterbühne werden Produktionen der verschiedenen Gruppen aufgeführt, und im Sommer findet regelmäßig ein Festival statt.

Trägerverein ist die sogenannte „Free Culture Foundation“, die aus rund 300 Malern, Schauspielern, Musikern und Schriftstellern besteht. Finanziert wird die „Pushkinskaya ulica“ fast ausschließlich durch Spenden, ein großer Teil davon wird vom Wohltätigkeitsfonds „Tides“ aus San Francisco aufgebracht. „Unsere finanzielle Situation ist schlecht, weil unsere Kunst nicht kommerziell ist“ meint Ludmila Vorontsova, die den Kulturaustausch von russischer Seite aus organisiert. „Und unsere Intellektuellen haben ohnehin kein Geld. Die könnten sich keine Tickets für unsere Performances leisten, wenn die teuer wären.“

Der chronische Geldmangel hätte beinahe schon das Aus für das unabhängige Kulturhaus bedeutet, denn seit Jahren bekundeten mehrere Investoren, insbesondere der private Fernsehsender Channel 5, ihr Interesse an dem historischen, zentral gelegenen Gebäudekomplex nahe der Moskovski-Bahnhofsstation. Obwohl man 1989 einen günstigen Nutzungsvertrag mit der damaligen Stadtverwaltung abgeschlossen hatte, übte der spätere Bürgermeister zunehmend Druck auf die Leute von der Puschkinstraße aus. Nun sind diese einen Kompromiß eingegangen: Das Haus wird komplett saniert, und von den ursprünglich 13.500 m2 bleiben gerade noch 4.100 m2 dem unabhängigen Künstlerverbund zur nichtkommerziellen Nutzung überlassen. Dafür wurde ihm ein Vertrag auf Mietfreiheit für 49 Jahre garantiert, nur für die Nebenkosten werden die Nutzer weiterhin aufkommen müssen. Die allein betragen schon rund 2.000 US- Dollar.

Beim Kampf ums Fortbestehen spielt daher die Unterstützung der Öffentlichkeit, auch im Ausland, eine wichtige Rolle. Kulturaustausch und Vernetzung zielen darauf ab, nicht nur die einzelnen Künstler, sondern die „Pushkinskaya 10“ als Projekt bekannt zu machen. Entsprechende Vorhaben wurden bereits mit Partnern aus Österreich und Helsinki umgesetzt, Kooperationen mit Dresden und Berlin sollen folgen.

Die kleine Reihe „Schwarze Nächte“ sieht Ludmila Vorontsova als Prolog zu einem größeren Festival, möglicherweise im nächsten Herbst. Interessiert gezeigt haben sich bereits die UFA-Fabrik, der Pfefferberg, das Kunsthaus Bethanien sowie das Podewil. Vorausgesetzt, der Senat kann zahlen. Daniel Bax

„Schwarze Nächte“ in der Lychener Straße 60, Prenzlauer Berg. 6.12., 22 Uhr: Out of ZGA; 7.+8.12., 21 Uhr: Do-Teatr