"Der tiefste Punkt liegt hinter uns"

■ Schering-Vorstand Vita: Biotechnologie, Mikroelektronik und Unterhaltungsindustrie sind die Branchen der Zukunft

taz: Dr. Vita, Ihre Diagnose: Ist die Lage der Berliner Industrie ernst oder hoffnungslos?

Giuseppe Vita: Der Patient hat Fieber. Kein Fieber wie bei einem 80jährigen, der im Sterben liegt. Eher wie bei einem Kind: Es hat die innere Kraft, wieder gesund zu werden. Wenn der Patient geheilt ist, wird er widerstandsfähiger sein als zuvor.

Wann kommt der Niedergang zum Stillstand?

Der tiefste Punkt liegt bereits hinter uns. Für die traditionellen Industrien ist der Abbau ein notwendiger Prozeß. Niemand will heute noch Chemiefabriken mitten in der Stadt. Auch wir haben große Teile unserer Produktion schon 1961 nach Bergkamen verlagert. Es kommen aber neue Firmen aus der Biotechnologie und der Elektronik. Das sind saubere Gewerbezweige, die für die Zukunft eine größere Bedeutung haben als die traditionellen Industrien.

Bleibt überhaupt noch etwas von der alten Industrie übrig?

Eine gewisse Infrastruktur wird überleben. Siemens modernisiert seine Werke. Auch BMW und Daimler investieren hier.

Nennen Sie drei Schwerpunkte, auf die die Stadt sich beim Wiederaufbau der Wirtschaft konzentrieren müßte.

Biotechnologie, Mikroelektronik und Unterhaltungsindustrie. Außerdem müssen wir uns beeilen, unsere geographische Lage zu nutzen. Von hier aus sind Sie in zwei Stunden in Moskau, von Paris und London dauert das viel länger. Wenn Berlin seine Chance verschläft, werden Wien oder Prag die Funktion der Brücke nach Osteuropa übernehmen.

Die hochgelobte Bio- und Medizintechnologie schafft nur wenige neue Arbeitsplätze.

Heute macht die Biotechnologie der Region Berlin-Brandenburg mit rund 3.600 Mitarbeitern einen Umsatz von 1,7 Milliarden Mark. Und man rechnet mit einem Personalzuwachs von rund vierzig Prozent. Weil die Akzeptanz der Bevölkerung für bio- und gentechnologische Produkte wächst, hat auch Schering mehr Mut, in Berlin zu investieren. Früher sind wir ja nach Kalifornien gegangen mit unserer gentechnologischen Herstellung. Eine Ausweitung wird aber eher hier passieren.

Schering forscht in Berlin, produziert aber woanders. Das ist eine anerkannte Schwäche der hiesigen Biotechnologiebranche.

Das kann auch eine Stärke sein. Wenn Sie diesen Zweig weltweit betrachten, dann ist das heute keine Massenproduktion, die Hunderttausende von Jobs schafft. 5.000 Forscher sind schon ein gutes Potential. In zehn Jahren entstehen dann daraus neue Produktionsstätten.

Der Senat preist die Hochschulen als wichtige Voraussetzung für den Aufschwung, streicht aber Tausende von Studienplätzen und Wissenschaftlerstellen.

Wenn man sich drei Universitäten nicht leisten kann, muß man eine abbauen. Ich hoffe, daß darunter die Qualität nicht leidet.

Der Studiengang Pharmazie an der Humboldt-Uni soll eingestellt und das Fach nur an der FU fortgeführt werden. Das schmälert die Wissenschaftsbasis, auf die Schering zurückgreifen kann.

Wenn die Wissenschaft trotzdem weltweit konkurrenzfähig bleibt, ist das zu verschmerzen.

Gelingt es der Wirtschaftspolitik, die Rahmenbedingungen für eine wirtschaftliche Gesundung zu schaffen?

Man hat Probleme. Investoren, die nach Berlin kommen wollen, bedürfen stärkerer Hilfe. Eine Zentralstelle der Verwaltung könnte sie bei allen notwendigen Genehmigungen unterstützen. Denn Unternehmen müssen planen: Innerhalb von zwei Jahren wollen sie ein neues Produkt auf den Markt bringen. Da kann man nicht zwei Jahre auf die Genehmigungen für den Bau der Fabrik warten.

Ist Berlin für Firmen zu teuer?

Die Gewerbesteuer muß nicht unbedingt konstant bleiben, aber die Politiker sollten ihre Versprechungen einhalten. Ursprünglich sollte der Gewerbesteuerhebesatz ja bei 390 Punkten bleiben. Unlängst wurde jedoch beschlossen, ihn ab 1999 weiter auf 410 Punkte zu erhöhen. Wenn wir Investoren anwerben wollen, müssen wir ihnen heute sagen, mit welcher Steuerbelastung sie morgen zu rechnen haben. Sonst werden sich die Unternehmen die Ansiedlung überlegen.

Kann sich die Kulturindustrie zu einem ein wichtigen Wirtschaftsfaktor mausern?

In diesem Bereich fehlt oft das richtige Management. Berlin ist eine der wichtigsten Kulturstädte Europas. Aber wir nutzen diesen Vorteil zu schlecht.

Wie kann Kultur Geld und Jobs bringen?

Manche Leute verstehen noch nicht, daß man sich besser verkaufen muß. Berlin hat wunderschöne Museen, aber dort finden Sie meist nur einen kleinen Buchladen und ein unterentwickeltes Restaurant. Ausstellungen in London und New York bieten dagegen auch Räume für Geschäfte. Die hiesigen Museen könnten viel mehr Geld machen.

Sie sind Aufsichtsratmitglied der Bewag. Die senkt gerade die Strompreise für Unternehmen – schlecht für die Umwelt.

So sehe ich das nicht. Es ist gut, daß die Kosten für die Industrie gesenkt werden. Schließlich sind sie noch immer höher als in vergleichbaren westdeutschen Großstädten.

Niedrigere Strompreise verleiten zur Energieverschwendung.

Schering muß jeden Pfennig sparen, auch wenn die Energie billiger wird. Durch die Senkung des Preises wird die Berliner Luft nicht dreckiger.

Die Ökosteuer soll Energie verteuern, die Lohnnebenkosten aber senken und die Unternehmen entlasten – ein gutes Modell?

Ich glaube, daß dadurch im Gegenteil höhere Kosten entstehen, was zu weniger Arbeitsplätzen führt. Wir konkurrieren doch mit Firmen aus der ganzen Welt. Und dort gibt es solche Steuern nicht. Ein möglicher Effekt könnte sein, daß energieintensive Firmen wie Chemieunternehmen auswandern. In 80 Kilometer Entfernung beginnt Polen.

Ich habe aber eine andere Idee: Man erhöht nicht die Steuern und Preise, sondern gibt Firmen, die Energie sparen und den Kohlendioxid-Ausstoß verringern, eine Prämie. Das dient der Umwelt und achtet den Wettbewerb.

Interview:

G. Nowakowski

und H. Koch