Ideen, Kapital und Märkte sind blockiert

■ Stadtsoziologe Winfried Hammann: "Wachstum führt nicht zu Vollbeschäftigung". Senat ohne Konzept für neue Industrie

taz: Wüste der Arbeitslosigkeit oder High-Tech-City – wie sieht Ihre Prognose für die Berliner Industrie aus?

Winfried Hammann: Je nachdem, wie man zählt, arbeiten heute noch zwischen 150.000 und 180.000 Menschen in der Industrie – zehn Prozent der offiziell Beschäftigten. Und der Trend zur Deindustrialisierung setzt sich fort. Aus der Landwirtschaft kennen wir das bereits: Dort arbeiten heute drei Prozent aller Beschäftigten und ernähren die gesamte Bevölkerung. Die Industrie wird in Zukunft mit fünf Prozent der Arbeitskräfte alle Produkte herstellen, die wir benötigen.

Das bedeutet eine Halbierung der Zahl der Arbeitsplätze. Hat der Senat ein Konzept, diesen Strukturwandel zu lenken?

Wohl kaum. Wir hätten 1990 eine offene und breit angelegte Struktur- und Modernisierungsdebatte gebraucht. Die hat aber bis heute nicht stattgefunden – weder im Senat noch im Abgeordnetenhaus oder der Öffentlichkeit. Das lag auch daran, daß die Wirtschaftsforscher die Aussichten viel zu positiv beurteilten.

Wieso haben sich die Forscher so verschätzt?

Es gibt kein historisches Beispiel. Die Veränderung im Ruhrgebiet brauchte fast 30 Jahre. Einen so schnellen Zusammenbruch industrieller Strukturen wie in Berlin und Ostdeutschland brachte nicht einmal die Weltwirtschaftskrise von 1929 mit sich.

Der Senat fördert Schwerpunkte neuer Industrien: Umwelt, Gentechnologie, Medizin. Das klingt nach einem Konzept.

Wenn ich nach Frankfurt oder Wien gehe, treffe ich auf genau dieselben Bereiche. Das sind natürlich die neuen Wachstumsbranchen, auf die jetzt jeder setzt. Man muß auch andere Wachstumssektoren suchen und überlegen: Wie müssen die Demontage- und Recyclingbranche, Finanzierungs- und Vermittlungsdienste aussehen? München und das Ruhrgebiet sind da schon weiter.

Bei der Entwicklung und Produktion von Schienensystemen und Bahnen haben die Unternehmen der Region Berlin-Brandenburg etwas zu bieten.

Da nennen Sie den einzigen Bereich, der einigermaßen läuft. Alles andere befindet sich im Aufbau. Doch auch in der Verkehrstechnik gibt es Nachholbedarf. EU-Kommissar Jacques Delors hat schon vor Jahren vorgeschlagen, ein europäisches Netz für Verkehr und elektronische Kommunikation aufzubauen, das Osteuropa einbezieht. Ein solches Projekt würde viel Kapital mobilisieren. Doch angepackt wurde es bisher nicht.

Parallel zum Niedergang der Industrie entstehen in Adlershof und an anderen Orten Netzwerke kleiner Unternehmen, die High-Tech- Produkte entwickeln.

Ich vermisse den Gründerboom in der Industrie. Gerade einmal drei Prozent der Neugründungen entfallen auf das verarbeitende Gewerbe. Die große Masse sind traditionelle Dienstleister: Kneipen, Hotels, Restaurants.

Warum gibt es keinen Gründerboom?

Angesichts der Rahmenbedingungen kann die Gründerzeit keinen wirklichen Durchbruch erzielen. Ideen, Märkte und Kapital sind blockiert. Die Wirtschaft steht hier mit dem Rücken zur Wand. Es müßte mehr Mobilisierungskraft hineingehen. Senatseigenes Papier vollschreiben, dann schnell ein Gründerzentrum bauen – das ist zu wenig. Ein Beispiel: Es gibt hier einen Betrieb, der mit Lichttechnologie verschmutztes Wasser reinigt. Diese Firma bekommt einen kleinen Etat vom Forschungsministerium, und damit hat es sich. Die können nichts aufbauen. Es reicht gerade mal, um drei Mitarbeiter zu bezahlen. Auch von den Banken bekommen diese Firmen keine Kredite für ihre Produkte.

Anstatt diese Kleinbetriebe zu fördern: Hält der Senat zu sehr an der Chimäre der Dienstleistungsmetropole fest?

Diese Idee knüpft an die siebziger und achtziger Jahre an, als Frankfurt und London sich radikal auf dieses Szenario bezogen und damit auch Erfolg hatten. Heute jedoch funktioniert es nicht mehr. Banken, Versicherungen und Beratungsfirmen können den Wegfall der industriellen Arbeitsplätze nicht kompensieren. Es entstehen ganz neue Berufsbilder und Arbeitszweige. Dienstleistung und Produktion verknüpfen sich in den modernen Unternehmen. Diese Grauzone, aus der Neues entsteht, muß man ins Blickfeld bekommen.

Grundsätzlich: Daß Berlin den Standortkrieg mit Stuttgart und Hongkong gewinnt, ist doch illusorisch. Daß hier irgendwann alle wieder Arbeit haben, ebenso.

Kein Wachstumsszenario wird Vollbeschäftigung bringen. Im Vergleich zu 1970 brauchen wir nur noch die Hälfte der menschlichen Arbeit, um dieselbe Menge Güter herzustellen – ein Quantensprung. Parallel steigt die Arbeitslosigkeit. Da entsteht die Frage: Wie verteilt man künftig die Arbeit, wie das Einkommen? Die Bedeutung der Lohnarbeit für den Lebensunterhalt vieler Menschen wird abnehmen. Man muß die sozialen Versorgungssysteme davon entkoppeln.

Sehen Sie die Spaltung der Stadt voraus – hier glänzende Labore, dort Armutsviertel, in denen das Fitneßstudio der größte Arbeitgeber ist?

Die Wilhelminenhofstraße in Oberschöneweide ist so ein Krisengebiet, das abzustürzen droht. Der Zusammenbruch der alten Strukturen läuft schneller als die staatliche Intervention. Von einigen kleineren Betrieben abgesehen, ist die Fernsehfirma Samsung der einzige stabile Faktor.

Auch Kreuzberg sackt ab.

Die Aussicht, daraus einen Standort für Öko- und Umwelttechnologie zu machen, ist mager. Wenn es nicht gelingt, neue Unternehmensstrukturen aufzubauen, geht es weiter abwärts. SO 36 ist ein sozialer Brennpunkt.

Wie läßt sich dem Niedergang entgegenwirken?

In der Umweltsanierung hat Berlin heute einen enormen Bedarf. Doch wo gehen die Milliardenaufträge der Wasser- und Abfallbetriebe hin? Zu neunzig Prozent nach Nordrhein-Westfalen. Das heißt: Wir müssen erreichen, daß mit solchen Investitionen eine Regionalentwicklungspolitik betrieben wird. Landeseigene Unternehmen müssen sagen: Hier ist ein Großauftrag, der wird aber auch hier gemacht. Da könnte man unter Umständen einen Gründerboom auslösen. Interview: H. Koch