Bowle à la Born

Das ARD-Magazin „Brisant“ soll einen manipulierten Beitrag über jugendliche Alkoholiker ausgestrahlt haben  ■ Von Oliver Gehrs und Christoph Schultheis

Eigentlich wollten sie alle nur mal ins Fernsehen. Als dann das Kamerateam vorm Berliner Georg-Christoph-Lichtenberg-Gymnasium stand, waren Nadine, Mareen, Thomas und Stefan schnell dabei. Begleitet von der Kamera gingen sie in der Pause zum nahe gelegenen Supermarkt, kauften dort ein wenig Bowle und ließen sich beim Trinken ein paar belanglose Statements zum Thema Alkohol und Jugend entlocken. Weil das aber wohl alles nicht genug hergab, verfrachtete das Drehteam die Schüler kurzerhand ins Auto und fuhr mit ihnen nach Schulschluß zum Alexanderplatz – einem stadtbekannten Treffpunkt obdachloser Straßenkids. Dort ließen die Schüler auf Geheiß der Reporter erneut die Flasche kreisen: Diesmal Korn mit Milch und Frappé-Pulver. Im Film wurde daraus ein „kultiger“ Mix, mit dem die Jugendlichen gegen „Einsamkeit und Langeweile“ antrinken.

„Schwachsinn“, sagt Stefan, „das Zeug war total ekelhaft.“ Außerdem trinke er selbst, wie seine Mitschüler auch, „höchstens mal auf Parties, aber bestimmt nicht in der Schule“. Das habe er den Reportern auch gesagt, doch die hätten so lange gebohrt, bis sie was Brauchbares im Kasten hatten. „Ich habe immer gedacht, so arbeiten nur die Privatsender.“

Tun sie auch, aber im Dienst der ARD, bei der die Qualitätskontrolle anscheinend mittlerweile nicht viel besser ist als bei „Stern TV“. So war es für die Berliner Produktionsgesellschaft „Das Redaktionsbüro“ kein Problem, die reißerische Mixtur aus suggestiven Kameraeinstellungen, einigen Interviewschnipseln und einem dramatischen Kommentar beim MDR unterzubringen. Am 21.November wurde der zweifelhafte Beitrag im ARD-Boulevardmagazin „Brisant“ ausgestrahlt. So sahen sich Mareen, Stefan, Nadine und Thomas ein paar Tage nach dem Dreh selbst beim Bowletrinken zu und lauschten zunehmend ungläubig dem Kommentar: „Zielstrebig geht es in die nächste Kaufhalle, denn hier finden sie das, was sie brauchen, um die nächste Stunde zu überstehen: Alkohol.“

Nun fühlen sich nicht nur die betroffenen Schüler verleumdet, auch die Lehrer fürchten um den Ruf der Schule, schließlich war das Gymnasium deutlich im Bild zu sehen. „Wir haben hier keine Probleme mit Alkohol“, sagt eine Lehrerin, die den Eltern geraten hat, beim MDR eine Gegendarstellung zu erwirken.

Die hätte wohl wenig Aussicht auf Erfolg, ginge es nur um das branchenübliche Verhackstücken von Interviews und Bildmaterial – schließlich gehört die Mär von der Drogenhölle Schulhof auf allen Kanälen zu den quotenträchtigen Evergreens. Doch die Vorwürfe sind ungleich schwerer: „Erst haben sie uns den Alkohol bezahlt, und später gab es noch mal 50 Mark fürs Mitmachen“, sagen die zwischen 14 und 16 Jahre alten Schüler. Die Reporter hätten sie aufgefordert, „möglichst große Schlucke“ zu machen. Ein Teil des Alkohols habe das Drehteam sogar selbst mitgebracht, berichtete Nadine im Gespräch mit den Lehrern. Sollten die Vorwürfe zutreffen, hätte der MDR, bei dem das „BoulevARD-Magazin Brisant“ produziert wird (und dessen Intendant Udo Reiter erst am Mittwoch zum ARD-Vorsitzenden gewählt worden war), seinen ersten Fall Born. Noch gibt man sich beim MDR eher verärgert als besorgt. „Der Beitrag wurde ordentlich abgenommen“, versichert „Brisant“- Redaktionsleiterin Claudia Schreiner, aufgefallen sei nichts. Überhaupt gebe es keine Veranlassung, die Zusammenarbeit mit der Firma, die den Beitrag lieferte, abzubrechen. Der stellvertretende Pressesprecher des MDR, Stefan Link, sieht ebenfalls wenig Grund zur Aufregung: „Das war alles sauber recherchiert“, sagt er. Gesehen hat er den Beitrag nicht.

Auch der Geschäftsführer der beschuldigten Produktionsfirma „Das Redaktionsbüro“, Oliver Bauss, hält die Bilder nach wie vor für authentisch und die Kinder für routinierte Trinker. Zum Beweis führt er Zweiflern auch gern mal das Rohmaterial vor. „So trinken nur Profis“, sagt Bauss, während die Jugendlichen verlegen in die Kamera lächeln. Und habe man nicht sogar einen Jugendpsychologen zu Wort kommen lassen? Natürlich hat man, schließlich verdient Bauss' Fernsehfirma ja ihr Geld damit, auch komplexe gesellschaftliche Phänomene in fünf Minuten abzuhandeln.

Eigentlich „versendet“ sich so etwas, doch seit dem Prozeß gegen den Fernsehfälscher Michael Born wird selbst das öffentlich-rechtliche Nachmittagsprogramm kritisch beäugt. Kein Wunder also, daß Bauss ziemlich nervös ist, als er das Rohmaterial vorführt. Die 50 Mark habe es lediglich „für S-Bahn-Fahrkarten“ gegeben, sagt er, doch beweisen kann er das nicht: Die Autorin des Beitrags, Kathrin Schirm, ist gemeinsam mit dem Kameramann im Urlaub und die Tonspur auf den Kassetten teilweise defekt.