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Zwischen den RillenNeue Abenteuer in Lo-Fi

■ Musik fürs innere Kohlenfeuer: Vic Chesnutt, Granfaloon Bus, Julian Cope

Wenn die durchschnittliche Halbwertszeit populärer Musik noch schneller sinkt als die Temperatur auf deinem Ostberliner Außenklo und sich die flotten Investitionen in Produkte aus der Punk- und Gernsehwerbung bestenfalls als Abschreibungsobjekte erweisen, ist antizyklisches Handeln angesagt.

Mögen die Trendspotter mit den coolen Cordhosen jeden Eid auf spaßliebende Kriminelle oder schwedische Strickjacken schwören – jetzt, wo Fortbewegung auch mit sechzehn Pferdestärken und gutsortierten Heiligenfiguren auf dem Armaturenbrett möglich ist, fehlt für die langen Abende vor dem Kohleofen eigentlich nur noch eine Perle aus dem Singer/Songwriter-Universum.

Sollte nun irgendwo zwischen Dylan, Parsons, Stevens & Young noch ein Plätzchen frei sein, gebührt es zweifelsohne Vic Chesnutt, dessen treueste Bewunderer keine Unbekannten sind. Der Legende nach war es kein Geringerer als R.E.M.-Sänger Michael Stipe, der den seit einem Autounfall querschnittsgelähmten Musiker vor acht Jahren im 40 Watt Club in Athens, Georgia, entdeckte und ihn mit den Worten „Ich möchte eine Platte mit dir machen, bevor du dich umbringst“ von der Theke ins Studio bugsierte.

Die ersten drei Alben kamen bei Henry Rollins' Firma heraus, auf dem Benefiz-Sampler „Sweet Relief II – The Songs of Vic Chesnutt“ geben sich nicht nur Soul Asylum, Smashing Pumpkins, Garbage und Kollegen die Klinke in die Hand. Selbst Madonna, die Antithese zum Prinzip des literarischen Popstars schlechthin, erscheint im Duett mit ihrem begnadeten Schwager Joe Henry, der übrigens mit „Trampoline“ eine der bemerkenswerteren unbemerkten Platten des Jahres hingelegt hat. Dieses Schicksal möge „About to Choke“, Chesnutts fünfte, nicht ereilen, denn so schön ist Melancholie selten bis nie.

Gemütlich schrummelnde Lagerfeuerklampfe, Piano und Percussion in homöopathischen Dosen und über allem ein mal lakonischer, mal ansatzweise zorniger Gesang – so etwas hat nahezu klassisches Format. Daß Chesnutt sich leider kurz vorm Ende der ersten Halbzeit mit einer einminütigen Schepperbeat- und Quäknummer kurzfristig auf Beckschem Terrain verläuft, daß das darauffolgende „Little Vacation“ ein wenig zu theatralisch daherkommt, erscheint da in Anbetracht der restlichen zehn Songs eher nebensächlich.

Richtig kompliziert wird es hingegen derzeit im weiten Feld der Low Fidelity, kurz Lo-Fi. Zwar hat die Szene der Homerecorder, Garagenproduzenten und Sperrmüll-Instrumentalisten mit dem schnutigen Oberloser Beck ein Aushängeschild gefunden, das bei den A&R-Managern der Majors auch schon mal zweit- bis drittklassigen Muckern die Türen öffnet, aber dennoch ist unterhalb der wenigen MTV-kompatiblen Acts fast alles offen. Guided By Voices aus Dayton, Ohio, zum Beispiel, müßten eigentlich schon längst Rolling By Stones heißen und ziehen in einer angehenden Vier-Millionen-Metropole dennoch kaum einhundert Leute aufs Konzert. Doo Rag, die kolossale Antwort des Mississippi-Delta auf Missing Foundation, verkaufen ihre Platten immer noch selbst auf Tour.

Es gibt also genug Seltsamkeiten zu entdecken, wenn Granfaloon Bus aus San Francisco vorfahren und ihren „Rocket Noon“ auspacken. Zwischen nölendem Feedback, Einspuraufnahmen aus dem Waschkeller und gemütvollen Passagen rocken sie wie Mütze, um keine Minute später die sanfte Lizenz zum Mitschunkeln zu verteilen.

Zwischen all diesen Bluesexplosionen und Folkimplosionen lümmelt sich ein eher obskurer Humor, dem Banjo, Akkordeon und Mandoline einen entscheidenden Extrakick Schrägheit versetzen. Mit den für diese Fälle völlig untauglichen Mitteln der Mathematik zerlegt, entspräche das von Carrie Bradly (Breeders) unterstützte Quartett der nicht vorhandenen Schnittmenge von A Subtile Plague und den Mountain Goats, multiplizierte man sie mit Simon Joyner.

Doch bevor Musik endgültig beim sympathisch selbstreferentiellen Wahnsinn landet, gibt es noch die eine oder andere Zwischenstufe.

Irgendwo dort treibt sich Julian Cope herum, der mit „Interpreter“ seinen neunzehnten Longplayer in die Welt setzt. Während andernorts „Independence Day“ den Zusammenhalt alles Irdischen beschwor, bekennt er sich freimütig zu seinem Dasein als Außerirdischer: „I come from another Planet, Baby“ heißt der Opener, und wahrscheinlich wurde diese Platte auf einem Planeten aufgenommen, den inzwischen die Radiowellen der Siebziger umflattern.

Schwer psychedelische Sequenzen aus tausendundeinem Trip verschmelzen mit zeitlosem Proto-Britpop, opulentes Gitarrengewusel trifft esoterische Predigten aus dem New Age, das so neu nun auch nicht mehr ist. Yeah, yeah, yeah – und lief das Band da eben nicht rückwärts und übermittelte eine versteckte Botschaft von Lucy aus dem Diamantenhimmel?

Wiederaufbereitet mit den Strahlen eines Fieberwahns kommen die irren Aggregate eines Spacerockers um die Ecke geflitzt und hinterlassen später am flirrenden Abendhimmel kryptische Zeichen. Die zu entziffern dauert länger, als die Industrie erlaubt, und alleine deswegen lohnt sich bereits das Einloggen in diesen wirren Weltenraum. Gunnar Lützow

Vic Chesnutt: „About To Choke“ (PLR/Rough Trade)

Granfaloon Bus: „Rocket Noon“ (Trocadero/Rough Trade)

Julian Cope: „Interpreter“ (Echo/MCA)

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