„Wie im Landschulheim“

■ Ein Besuch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Zentralkrankenhaus Ost / PatientInnen wollen Freiraum

Im Treppenhaus der Akutstation für psychisch kranke Jugendliche sollen Netze das Hinunterstürzen verhindern. Michaela* (14) ist seit drei Monaten hier. Ihre Eltern hatten sich getrennt, Michaela wollte sich umbringen. Der Hausarzt empfahl ihr „ein paar Tage Krankenhaus“. Eine stationäre Behandlung in der Kinder- und Jugend-psychiatrie im Zentralkrankenhaus (ZKH) Ost wurde angefragt, Michaela blieb da. Freiwillig, betont das selbstbewußt und dynamisch wirkende Mädchen: „Denn hier wissen die Leute, was man hat.“ Obwohl – langsam werde es auch blöd. „Man denkt manchmal, man ist wieder gesund. Ich höre nachts keine Stimmen mehr und habe wieder mehr Lust am Leben.“

Drei Monate auf der Akutstation in Ost, damit liegt Michaela bereits über dem Durchschnitt. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie des ZKHs werden 5- bis 18jährige (mit Diagnosen vom „notorischen Schulschwänzen“ bis zur Schizophrenie) aufgenommen, die von einer Woche bis zu einem Jahr bleiben. Eine mittlere Verweildauer von etwa zwei Monaten hat sich eingependelt, am Wochenende dürfen die PatientInnen nach Hause. Das ZKH hält fest an seiner stationären Abteilung für psychisch kranke Kinder und Jugendliche – obwohl insgesamt im Haus mehr ambulante Betreuung und Tagesklinikbetrieb angestrebt wird, und obwohl bundesweit eine Reform der stationären Therapiearbeit diskutiert wird (s.a. nebenstehenden Kasten). „Der Bedarf ist da – wir greifen immer dann ein, wenn die anderen nicht mehr weiterwissen“, so das Psychiatrie-Personal.

Kinder- und JugendpsychiaterInnen (sechs allein in Bremen), Beratungsstellen, das Amt für Soziale Dienste oder auch SozialpädagogInnen an Schulen weisen ein. Ellen* erzählt, ihre Ärztin habe die Verantwortung für eine Weiterbehandlung abgelehnt. Da hatte Ellen bereits einen Klinikaufenthalt hinter sich und ihre „Krankheit Magersucht“ auch nach zweieinhalb Jahren nicht in den Griff bekommen. Zusammen mit sieben anderen Mädchen ist die 19jährige seit fast einem Jahr auf der Psychotherapiestation. Ernst sagt die blonde junge Frau und knetet dabei ihre Hände: „Ich wollte ambulant weitermachen, aber die Therapie auf der Station ist besser, weil intensiver.“

Therapie heißt für Ellen faktisch zwei mal die Woche eine Stunde Gespräch. Alternativ dazu gibt es Bewegungs- oder Beschäftigungstherapie oder sogenanntes Lebenspraktisches Training. Was ist mit dem Rest des Tages? Gehört er mit zur Behandlung? Das fragen nun die BetreuerInnen vom Pflege- und Erziehungsdienst. Auf den Stundenplänen ihrer PatientInnen stehen Schulunterricht, Gruppenarbeit mit Seidenmalerei und Töpfern sowie nachmittags Fußball, Bowling und dergleichen „Aktivitäten“.

„Da müßte also ein Erzieher vor den psychischen Bereichen haltmachen.“ Der leitende Pädagoge Achim Beutling bezweifelt, daß dies überhaupt möglich ist. „Die Störungen der Patienten werden ja ständig aktiviert, aber nicht erkannt. Da schmeißt einer alle Sachen zusammen, und wenn man darauf nur pädagogisch reagiert, bewegt man nichts.“ Beutling und einige seiner KollegInnen fordern deshalb, daß sich sowohl die rund 40 Schwestern und Pfleger als auch die zehn ErzieherInnen der Kinder- und Jugendpsychiatrie therapeutisch weiterqualizifieren. „Dann könnte jeder Mitarbeiter für zwei Patienten eine besondere Verantwortlichkeit übernehmen und diese bekämen mehr persönlichen Freiraum. Haben wir es doch mit einer Klientel zu tun, die sich im Entwicklungsprozeß befindet.“

Ihr ist es wichtig, daß den ganzen Tag jemand da ist, findet Michaela. Nur nachmittags würde sie sich gern öfter mal mit ihrer Freundin treffen. Ellen darf vier mal am Tag eine halbe Stunde raus in den Park. „Das kann ich doch eigentlich selbst entscheiden, wie mein Tag abläuft“, kritisiert sie und blickt zu Boden.

Anfang nächsten Jahres wird Ellen voraussichtlich entlassen. Sie möchte anschließend in einer therapeutisch betreuten Wohngemeinschaft leben: „Ich bin beziehungsfähiger geworden.“ Das Leben in Ost sei ja doch irgendwie auch so ähnlich wie im Landschulheim. Einzelne Häuser für einzelne Stationen, hier die Mädchen, dort die Jungen. Zwei- bis Drei-Bett-Zimmer auf der Station. Waschräume und eine Gemeinschaftsküche. „Viele denken, daß Psychiatrie was ganz Schreckliches mit Gitterfenstern ist“, sagt Michaela und erzählt, daß wohl schon einer in ihrer Klasse gesagt hat, sie sei in der Klapse. Sie selbst sorgt sich ein bißchen, daß sie nun ein Schuljahr wiederholen muß, man verpaßt doch so vieles. „Aber man schließt hier auch Freundschaften.“

Silvia Plahl

*Die beiden Namen wurden geändert