"Von Integration war nie die Rede"

■ Nach ihrer Flucht aus Bosnien werden die Kriegsflüchtlinge zum zweiten Mal vertrieben - zurück in die Heimat. Selbstmordgefahr und das Schuldgefühl, überlebt zu haben, wachsen. Psychologin Sibylle Rothke

taz: Anfang November hat sich der bosnische Kriegsflüchtling Senad Becirović das Leben genommen – vermutlich aus Angst vor einer drohenden Abschiebung. Befürchten Sie weitere Suizidfälle?

Sibylle Rothkegel: Ich befürchte das. Wir machen im Zentrum für Folteropfer zwar Präventionsarbeit, aber das kann nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Uns fehlen einfach die Kapazitäten.

Das Trauma, vertrieben zu werden, haben die bosnischen Kriegsflüchtlinge, als sie vor vier Jahren nach Deutschland flüchteten, schon einmal erlitten.

Viele, die kamen, waren traumatisiert. Sie litten unter Angststörungen, hatten Alpträume, Gedächtnisstörungen, schwere körperliche Schäden. Im wesentlichen handelte es sich um schwere seelische Verletzungen. Zusammenfassen kann man das unter dem Diagnosebegriff „posttraumatische Belastungsstörungen“. Einige träumen von ihrer Heimat und hoffen, bei der Rückkehr alles so vorzufinden, wie es früher war. Frauen rechnen damit, daß ihr vermißter Mann wiederauftaucht. Besonders betroffen sind die Kinder. Einige wollen hierbleiben, andere träumen davon, ihr Zimmer, ihre Katze, ihren Papagei wiederzufinden. Sie sperren sich gegen alles, was dagegen spricht.

Sie müssen ihnen diese Illusion nehmen?

Es ist wichtig, die Menschen aufzuklären, sie so zu stärken, daß sie mit der Realität konfrontiert werden können. Natürlich sehen sie im Fernsehen, was passiert, und sie haben große Angst. Einerseits liegt diese Angst in den traumatischen Erlebnissen begründet, andererseits darin, daß die nationalistischen Kräfte nach wie vor an der Regierung sind. Die Minen sind noch nicht entschärft, auch im übertragenen Sinne.

Die Erlebnisse sind noch nicht verarbeitet.

Es gab ja richtige Folterlager. Diese mit den Konzentrationslagern zu vergleichen ist problematisch. Aber die Leute sind systematisch entehrt worden. Ich weiß von Frauen, die noch heute in Berlin Angstzustände bekommen, wenn sie bestimmte Geräusche hören, wenn sie bestimmte Gerüche wahrnehmen.

Was sind das für Erinnerungen?

Erinnerungen an die Gemeinschaft. Sie können absolut nicht begreifen, wie Freunde, mit denen sie groß geworden sind, zum Tschetnik werden konnten. Daß diese Freunde ihre Häuser ausgeraubt, daß sie in Schulen und Turnhallen massenhaft Frauen vergewaltigt haben. Es ist dieses Nichtbegreifen, wie schnell der Nachbar zum Feind werden konnte.

Berlin konnte für die bosnischen Flüchtlinge nie zu einer zweiten Heimat werden?

Die meisten leben ja in Heimen, auf engstem Raum. Die Älteren haben nicht einmal die Sprache gelernt, die haben sich geweigert. Das ist eine psychologische Sperre. Von einer neuen Heimat kann keine Rede sein. Denn Gedanken an eine Rückführung gibt es ja schon lange. Die bosnischen Flüchtlinge haben sich hier nie sicher fühlen können. Daß sie nicht willkommen sind, das geht jeden Tag durch die Medien.

Die Deutschen haben sich nie wirkliche Mühe gegeben, die Bosnier zu integrieren.

Von Integration war nie die Rede. Es hieß immer: Wir nehmen ein Kontingent an Kriegsflüchtlingen auf. Daß sich dahinter aber Männer, Frauen und Kinder verbergen, daran hat keiner gedacht.

Wie hätte man eine richtige Integration gestalten können?

Menschen, die in Sammelunterkünften leben, können sich nicht willkommen fühlen. Außerdem muß man bedenken, daß sie grausige Lagererfahrungen in der Heimat gemacht haben. Wenn Leute aus Lagern kommen und wieder in Lagern aufgefangen werden, können doch niemals Wunden heilen. Das Schlimmste aber ist, wenn Menschen in ihrer Autonomie begrenzt werden. Wenn man ihnen keine Möglichkeit gibt, zu arbeiten oder etwas Sinnvolles zu tun.

Inwieweit können Sie den Flüchtlingen helfen?

Ein Patient hat mal gesagt, er sei als Opfer hierhergekommen und fühle sich jetzt als Überlebender. Sich hilflos fühlen, nicht mehr handeln können, das macht krank. Wenn ein Mensch wieder handeln, wenn er wieder Verantwortung übernehmen kann, wenn er wieder ja zum Leben sagt, dann sprechen wir von einem Heilungserfolg. Ich denke nicht, daß man alle Kriegsflüchtlinge hierbehalten muß, bis sie geheilt sind. Es müssen auch in Bosnien Möglichkeiten einer psychologischen Betreuung geschaffen werden.

Wie könnte so etwas aussehen?

Es müssen Fachleute hingeschickt werden, die diejenigen unterstützen, die schon dort sind. Die Kollegen vor Ort sind teilweise überlastet und vielleicht selbst traumatisiert. Aber zuerst einmal müßte so mancher Politiker entwaffnet werden.

Ein großes Problem dürften die Schuldgefühle sein, alle und alles im Stich gelassen zu haben.

Die meisten, die hierhergekommen sind, fühlen sich schuldig. Ich hatte einen Patienten, der in einem Lager gefoltert wurde, ein junger Mann um die Dreißig. Der hat wahnsinnige Schuldgefühle. Er wollte immer Atteste haben, die ihm belegen, daß er krank ist. Die wollte er zu seiner Familie, zu seinen Freunden schicken, um ihnen zu zeigen: ich kann nicht mitkämpfen. Es gibt ja Gefühle von Schuld bei Überlebenden, wie aus der Holocaust-Forschung hinreichend bekannt ist. Das wissen wir alles. Wir wissen, daß viele Juden nach fünfzig Jahren noch immer nicht nach Deutschland kommen können, weil die Erlebnisse so schmerzhaft sind. Und trotzdem verlangen wir nun von den Bosniern, daß sie zurückkehren sollen an den Ort des Grauens, obwohl sie sich dort noch gar nicht sicher fühlen können.

Wir machen uns quasi mitschuldig, wenn es zu neuen Aggressionen kommt.

Was passiert, wenn eine vergewaltigte Frau ihrem Peiniger gegenübersteht? Wenn Kinder ihre Väter rächen wollen? Die Kinder haben Phantasien, die sehen ihre Mütter leiden, die haben ihren Papa verloren. Manche sagen sich: Ich gehe zurück und erschieße den, der meinen Papa totgemacht hat. Die Kinder erleben eine Hilflosigkeit. Sie haben das Gefühl, die Eltern nicht beschützt zu haben.

Die Kinder haben ihre Kindheit verloren.

Sie müssen den Spagat zwischen der alten und der neuen Kultur aushalten. Sie haben keine Zeit, ihre eigene Traumatisierung zu heilen. Sie müssen in der Familie die Rolle des Beschützers übernehmen. Sie müssen die Mutter trösten, den Vater ersetzen. Sie leben als kleine Erwachsene. Sie werden von ihren Familien mit zu den Behörden genommen, weil sie am besten Deutsch sprechen. Irgendwann aber wird das alles aufbrechen. Interview: Jens Rübsam