piwik no script img

Gemeinsam sind sie unausstehlich

Wenn Umweltchemikalien zusammenwirken, kann sich ihre toxische Potenz sprunghaft verstärken. Neue Experimente der Grundlagenforschung erschüttern die alte Grenzwertpolitik  ■ Von Manfred Kriener

Eins und eins ist drei. Manchmal sogar vier oder zehn. Setzt man menschliche Zellen in der Petrischale dem Gemisch von mehreren Umweltchemikalien gleichzeitig aus, kann die gute alte Arithmetik abdanken. Die Kombinationswirkung eines Giftcocktails ist häufig sehr viel größer als die seiner einzelnen Teile. Die Gifte verstärken sich nicht nur. Ihr zerstörendes Potential paßt manchmal so perfekt zusammen, daß die Chemikalien auch in Niedrigstkonzentration überraschend toxische Effekte entfalten.

Neue Forschungsarbeiten der Oldenburger Biochemikerin Irene Witte (48) und ihres Teams belegen, wie Umweltgifte ihre toxischen Eigenschaften im Gemisch potenzieren können.

Ein Schadstoff kommt selten allein. Umweltchemikalien halten sich in der Regel nicht an Einzelstoffbetrachtungen, wie sie in der Toxikologie üblich sind. Nicht nur im Zigarettenrauch sind 2.000 Substanzen nachweisbar. Auch in Wasser, Luft und Boden und in unseren Nahrungsmitteln tummeln sich immer verschiedene Stoffe gleichzeitig. Kombinationswirkungen spiegeln also die realen Verhältnisse wider, Einzelstoffbetrachtungen sind kaum mehr als theoretische Krücken.

An der Universität Oldenburg hat Irene Witte Umweltchemikalien aus vier verschiedenen Stoffklassen miteinander kombiniert und menschliche Zellen mit den Testcocktails konfrontiert. Mit erstaunlichen Ergebnissen. Ihre vier chemischen Kandidaten sind „nicht-ähnlich“, sie unterscheiden sich in ihrem biologischen Wirkprinzip, obwohl zwei Pestizide und ein Pestizidzwischenprodukt darunter sind. Die vier Stoffe sind Umweltchemikalien, die schon heute im 50.000- bis 500.000-Tonnen-Maßstab jährlich weltweit die Umwelt verseuchen:

– 2,4-D (Dichlorphenoxyessigsäure), ein handelsübliches Pestizid

– 4-Chlorphenol, ein chemisches Zwischenprodukt für Pestizide, Farbstoffe und Arzneien

– Dicofol, ein handelsübliches Pestizid, das dem verbotenen DDT sehr ähnlich ist.

– 4-Chloranilin, ein chemisches Zwischenprodukt zur Farbherstellung.

Für ihre Versuche verwendete die Forscherin bewußt Konzentrationen unterhalb des sogenannten NOEC-Grenzwerts. Die Abkürzung (No Oberserved Effect Concentration) steht für jene Konzentration, bis zu deren Erreichen ein Gift nach den Lehrsätzen der Toxikologie wirkungslos, also ungefährlich ist. Das weitverbreitete Pestizid 2,4-D hat zum Beispiel einen NOEC-Wert von 8 Millimol je Liter. („Mol“ ist ein Maß für die Zahl von Molekülen). Bis zu dieser Konzentration wachsen mit 2,4-D behandelte Zellen munter und ohne erkennbare Störung weiter. Mischt man die Chemikalie nun mit den drei anderen Substanzen, ergeben sich verblüffende Wirkungssprünge. Selbst wenn alle drei Zusatzstoffe extrem verdünnt in einer Dosierung von nur einem Drittel ihres jeweiligen NOEC- Wertes zugerührt werden, also weit unterhalb jedes Effekts, verstärkt sich die zelltötende Potenz von 2,4-D gewaltig. Jetzt reichen plötzlich schon 6 Millimol, um das menschliche Zellwachstum vollständig zu stoppen, was durch 2,4-D allein erst ab 17 Millimol erreicht wird.

Arbeitsteilung an der Zellmembran

Auch im Dreierpack kombiniert, ohne 2,4-D, sind die Chemikalien sehr viel toxischer als einzeln. Jetzt ist das Zellwachstum schon ab einer Konzentration von je 0,25 NOEC gestört: Die toxische Potenz hat sich in der Dreierkombination vervierfacht. Ab 0,67 NOEC kommt das Zellwachstum komplett zum Erliegen.

Wo liegen die Ursachen für die starke Verschiebung der Toxizitätsschwelle? Die Wissenschaftlerin glaubt an ein verhängnisvolles Zusammenspiel zwischen fettlöslichen (lipophilen) und wasserlöslichen (hydrophilen) Substanzen. Die lipophilen Substanzen können die Membran, die Schutzschicht der Zelle, knacken, während die hydrophilen Stoffe an dieser Barriere scheitern. Miteinander kombiniert, herrscht ideale Arbeitsteilung. Die einen nisten sich in die Fettschicht der Zelle ein und machen den Türöffner. Die anderen nutzen die geschlagenen Breschen und marschieren als Trittbrettfahrer in das Zellinnere ein. Die Forscher nennen dieses Zusammenspiel „interaktiv“. Als Beweis hat das Oldenburger Team in einem weiteren Experiment Stoffe mit ähnlicher Lipophilität miteinander kombiniert und dabei nur additive Wirkungen, aber keinen Toxizitätssprung festgestellt.

Bis zu 50 verschiedene Substanzen haben Wissenschaftler inzwischen miteinander kombiniert. Faustregel: „Je mehr Substanzen ein Gemisch enthält, desto geringere Konzentrationen der Einzelsubstanzen werden benötigt, um eine toxische Gesamtwirkung hervorzurufen.“ Neben der unseligen Arbeitsteilung an der Zellmembran gibt es viele andere Kombinationswirkungen, die ein komplexes Zusammenspiel zwischen Umweltchemikalien und menschlichem Stoffwechsel zeigen. Bekannt sind inzwischen die wechselseitigen Blockaden und Störungen verschiedener Chemikalien bei deren Abbau im Körper. Der menschliche Organismus muß die Umweltgifte unbedingt loswerden. Über mehrere Reaktionsketten werden die Fremdstoffe solange umgebaut, bis sie schließlich wasserlöslich und über den Harn ausscheidbar sind.

Für diesen Um- und Abbau sorgen Enzyme. Bestimmte Gifte können wiederum heftige Enzymreaktionen auslösen – mit manchmal verheerenden Folgen. Im Rattenversuch zeigt sich die unheilvolle Kombination von Pentachlorphenol (PCP – in Holzschutzmitteln zur Berühmtheit geworden) und Arochlor (ein Gemisch aus chlorierten Biphenylen). Arochlor provoziert eine Vermehrung von Leberenzymen, die gleichzeitig das PCP angehen und es zu Dihydroxybenzolderivaten umbauen, ein stark DNA-schädigendes Gift, das für die krebserzeugende Wirkung des PCP verantwortlich ist. Die Benzolderivate werden bei dieser Giftkombinationswirkung bis zu 40mal mehr gebildet. Sie sind weit gefährlicher als die Ausgangssubstanz PCP.

Eine dritte tückische Kombinationswirkung ist die direkte Reaktion verschiedener Chemikalien miteinander. Nicht selten entsteht dabei ein neuer, manchmal sehr viel gefährlicherer Stoff. Bekanntestes Beispiel sind die krebsauslösenden Nitrosamine, die im sauren Milieu des Magens aus dem Nitrat im Trinkwasser und den Aminen der Nahrung entstehen.

Reaktionsprodukte greifen das Erbgut an

Witte hat das für den menschlichen Organismus essentielle Spurenelement Kupfer, gleichzeitig ein giftiges Schwermetall, in verschiedenen Kombinationen untersucht. Das Metall, das vor allem für Wasserleitungen benutzt wird, reagiert besonders freudig mit sauerstoffhaltigen, aber auch mit schwefelhaltigen Verbindungen, mit Aldehyden und organischen Säuren. In Verbindung mit dem Pestizid „Zineb“, mit Lebensmittelzusatzstoffen wie Propylgallaten oder mit Arzneien wie Tetracyclin (ein Antibiotikum) erhöhte sich seine toxische Potenz sprunghaft. Es kam zu Doppelstrangbrüchen der DNA mit erbgutschädigenden und vermutlich krebserregenden Folgen. Die Ausgangsverbindungen hatten in derselben Konzentration keine DNA-schädigende Eigenschaft.

In diesem Zusammenhang ist eine rätselhafte Vergiftungskrankheit zu sehen. Das frühere Bundesgesundheitsamt vermutete, daß die frühkindliche Leberzirrhose, die in Deutschland bereits 13 Todesopfer gefordert hat, nicht auf die Schadwirkung eines Einzelstoffs, sondern auf solch synergistische Reaktionen zwischen Kupfer und bestimmten Umweltchemikalien zurückgeht. Wittes Forschung stützt diese These.

Fazit ihrer Experimente: Kombinationswirkungen haben eines gemeinsam. Sie können die toxische Potenz einer Chemikalie dramatisch verstärken. Und sie erschüttern die bisherige Grenzwertpolitik, die auf Einzelstoffanalysen beruht. Würde man die Kombinbationswirkungen ernst nehmen, müßten viele Grenzwerte deutlich gesenkt werden. Die geplante Rücknahme des EU-Sammelgrenzwerts für Pestizide im Trinkwasser ist vor diesem Hintergrund, so Witte, „ausschließlich für Industrie und Wasserwerke gesund“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen