Rätsel um das zersplitterte Fenster

Beim gerichtlichen Ortstermin im Lübecker Prozeß um die Feuerkatastrophe in einem Flüchtlingsheim fanden sich Hinweise auf einen Einbruch in der Brandnacht. Täterfrage bleibt offen  ■ Von Andreas Juhnke

Hamburg (taz) – Fast vier Monate hat es gebraucht, ehe im Lübecker Brandstifterprozeß wenistens einige der grundlegenden Fragen beantwortet waren: In welchem Zustand befanden sich Fenster und Türen des Heimes an der Hafenstraße 52? Gab es die Möglichkeit, daß von außen jemand in das Haus eindringen konnte?

Auf Anregung von Verteidigerin Gabriele Heinecke schickte das Gericht das Landeskriminalamt (LKA) Schleswig-Holstein noch einmal zur Brandruine. Das Ergebnis, mit dem die LKA-Spezialisten zurückkamen, ging Ende Oktober den Prozeßbeteiligten zu. Bei der Begehung der Ruine am vergangenen Mittwoch konnten die Befunde am Ort des Brandes überprüft werden.

Der überraschende Fund könnte dem Verfahren eine neue Richtung geben. Am Fenster links neben dem Eingangsbereich wurden eindeutig Aufbruchspuren entdeckt. Es führte in das Büro der Diakonie im Haus. Sowohl am Fensterrahmen als auch am Fenster selbst, so das LKA, „sind Hebelspuren auszumachen“, die zur „Splitterung des Holzes geführt haben“. Außerdem wurde das doppelte Isolierglas zerstört. Offenbar, so folgerten die Gutachter, wurde erst die Scheibe eingeschlagen, wegen einer speziellen Sicherung konnte der Schließmechanismus jedoch nicht betätigt werden.

„Als sich das Fenster wegen der verriegelten Zusatzsicherung nicht öffnen ließ“, meint das LKA, „wurde diese vermutlich durch Hebelkräfte gewaltsam aufgedrückt.“ An zwei weiteren Fenstern im Erdgeschoß fanden sich ebenfalls eingeschlagene Scheiben. Diese allerdings, so das LKA, seien offenbar während der „Rettungs- und Löscharbeiten eingeschlagen worden“.

Damit könnte der erste objektive Beweis vorliegen, daß in der Brandnacht von außen versucht wurde, in das Haus an der Hafenstraße einzudringen. Denn vor der Brandnacht, so die Lübecker Diakonie, gab es dort keinen Einbruch. Keiner der Feuerwehrleute oder Polizisten hat ausgesagt, daß in der Brandnacht versucht wurde, an diesem Fenster auf so umständlich Art ins Haus einzudringen. Den Rettern hätte es genügt, die Scheibe einzudrücken.

Nach dem Brand war dieser Einbruch nicht mehr nötig. Die Tür zu dem dahinterliegenden Raum war weggebrannt. Über die Täter oder Brandstifter sagt diese Spur freilich gar nichts aus – doch zumindest etwas über eine mögliche Mitwirkung von außen.

Einen ersten Hinweis auf den Einbruch hatten Vater und Schwester des angeklagten Safwan Eid schon in der Brandnacht gegeben. Sie schliefen im ersten Stock direkt über der möglichen Einbruchstelle und wurden wach, weil sie Glas splittern hörten.

Über ihnen im zweiten Stock schlief Françoise Makudila. Die 29jährige Zairerin rief kurz nach 3.40 Uhr in der Brandnacht am 18. Januar über ihr Handy zuerst die Polizei an. Ihr Notruf wurde im Gericht vorgespielt. Zu hören ist das Krachen des Brandes, Kinderschreie, Worte und Sätze: „Hallo! Feuer! Hafenstraße 52. Kommen schnell!“ Dazu: „Die Nazis greifen uns an, sie kommen ins Haus.“

Vergeblich versuchte der Polizist, sie zu beruhigen und weitere Informationen von ihr zu bekommen. Nach knapp einer Minute bricht das Gespräch ab, Frau Makudila starb neben ihrem Sohn Legrand (4). Ihre Kinder Jean-Daniel (1), Christelle (6), Miya (12) und Stieftochter Christine (19) kamen weiter hinten in der Wohnung ums Leben.

Ob die erste Augenzeugin des Brandes etwas gesehen hatte oder nur aus der im Haus allgegenwärtigen Angst vor einem Anschlag von „den Nazis“ sprach, wird nicht mehr zu klären sein. Auch das, was Sylvio Amoussou widerfahren ist, können nur noch Gerichtsmediziner erklären. Der 27jährige Mann aus Togo lag tot im Eingangsbereich, dort, wo die zweite Möglichkeit bestand, ohne großen Aufwand in das Haus einzudringen.

Ein Fenster, so bestätigte ein Polizist von der Spurensicherung im Prozeß, war von außen relativ leicht zu öffnen. Die meisten Hausbewohner hatten das bestätigt. Nur eine Familie meinte, das Fenster sei immer verriegelt gewesen.

Sylvio Amoussou hatte weder im Blut noch in der Lunge die für Brandopfer typischen Ruß- oder Gasspuren. Statt dessen, so wurde im Obduktionsprotokoll festgehalten, fand sich bei ihm eine „Einblutung“ am Kehlkopf auf „Höhe des 6. und 7. Halswirbelkörpers“. Eine Verletzung, wie sie auch durch Würgen entstehen kann.

„Welche Schritte können wir unternehmen“, fragte deshalb der Vorsitzende Richter Rolf Wilcken schon vor mehreren Wochen in die Gutachterrunde im Gerichtssaal, „um irgendwie dem Tod von Sylvio Amoussou auf die Spur zu kommen?“ Eine Antwort steht bislang aus.

Während das aufgebrochene Fenster in den verschlossenen Büroraum führte, in dem keine Spuren für ein weiteres Eindringen ins Haus gefunden wurden, führte das Fenster zum Vorraum ohne weiteres ins Hausinnere. Hier könnte Sylvio Amoussou auf Attentäter gestoßen sein.

Auffällig war bei der Besichtigung des Tatorts durch das Gericht erneut der merkwürdige Zickzackkurs, den das Feuer im Haus hinterlassen hat. Schwere Brandschäden finden sich links unten im Vorbau, rechts oben im ersten Stock und wieder auf der linken Seite im zweiten Stock – wo die Familie Makudila starb und offenbar so früh vom Feuer eingeschlossen wurde, daß Françoise Makudila nicht mehr zu ihren Kindern in die hinteren Räume gehen konnte. Über das Dachgeschoß läßt sich heute kaum noch etwas sagen, weil es weitgehend eingestürzt ist.

Die wichtigsten Angaben zum Brandverlauf haben bisher die beiden Feuerwehrmänner geliefert, die als erste am Brandort eintrafen und eine Minute danach als einzige durch den Eingang kurz in das Haus reinkamen. Beide erinnerten sich an einen starken Brand im Vorbau und im ersten Stock. „Der Brand war für mich recht untypisch“, meinte der 50jährige Feuerwehrmann, weil die Brandherde scheinbar keine Verbindung miteinander hatten.

Sein Kollege in diesem Angriffstrupp berichtete, daß er über sich löschen mußte, als er die Treppe zum ersten Stock hinaufstieg. Dann mußte er schnell raus, weil die brennende Treppe vom zweiten Stock herabstürzte. Ihre Beobachtungen sprechen dafür, daß sich eine Feuerspur das gesamte Treppenhaus hinunterzog.

Jeder der bisher 22 Prozeßtage warf neue Fragen um diesen Brand auf. Trotz der Mühe des Gerichts, das Unglück zu erhellen, deutet nichts darauf hin, daß alle Fragen bis zum Verfahrensende geklärt werden können.