Suche nach Diaphragma-Gel

Berlins einzige Kollektiv-Apotheke ist geschlossen. Das Geschäft am Viktoriapark war zugleich auch eine der ältesten Kreuzberger Apotheken  ■ Von Andreas Becker

Abgetretene Holzdielen sind die letzten Spuren einer 108jährigen Apothekengeschichte in Kreuzberg. Der Laden in der Großbeerenstr. 52, Ecke Hagelberger, ist leergeräumt, der wundervoll geschnitzte Holztresen mit seinen tausend Regälchen für braune Arzneiflaschen ist verschwunden. Im Keller wühlt ein Entrümpelungsunternehmen.

Seit 1980 war die „Apotheke am Viktoriapark“ – 1888 eröffnet als „Faber's Apotheke“ – Berlins einziges Apothekenkollektiv. Gegründet wurde die APOtheke von vier Männern, der erste formale Chef (rechtlich mußte jemand den „Inhaber“ spielen) war Ulf Mann, später bekannt geworden als Finanzier der Stiftung „Umverteilen“. Geschlossen wurde sie am 16. November von fünf Frauen. Die vertrackte Kollektiv-Evolution hatte, keiner weiß so genau warum, die Apotheke in den letzten Jahren des Bestehens zum Frauenbetrieb gemacht. „Absicht war das eigentlich nicht“, sagt Birgit Oidtmann, „Inhaberin“ bis zum Schluß. Etwas ratlos steht sie in den leeren Räumen und streitet sich mit den Entrümplern über einen Schrank, den diese gern auf ihren LKW hieven würden. Sie wundert sich über das blankgeputzte Linoleum, das plötzlich zum Vorschein kommt, und über die Staubablagerungen, die sich in den über hundert Jahren wie Erdschichten hinter dem Verkaufstresen abgelagert haben.

Man hat Probleme, nicht ziemlich doll sentimental zu werden, in diesem Ambiente. Stehen wir hier in den Ruinen eines gescheiterten Alternativbetriebs oder erleben wir die fröhliche Beendigung der Zwangskollektivierung der Berliner Apothekerschaft?

„Es hat sich irgendwie so ergeben, daß wir im Endeffekt auch keine Lust mehr hatten“, sagt Oidtmann. Aber auch das möchte sie relativieren, als habe das Apothekenkollektiv eine Art Verpflichtung gegenüber der Kundschaft. Das kollektive schlechte Gewissen bei Kunden wie VerkäuferInnen karikiert Arnulf Rating – als Kabarettist der ehemaligen „Drei Tornados“ mit der Apotheke verbandelt und langjähriger Kunde – bei der Apo-Beerdigungsparty in den leeren Ladenräumen: „Wäre ich mit meinem Großbedarf an Haarwuchsmittel doch nie hier weggezogen.“

Die einstige „Gesundheitsbewegung“ entpolitisierte sich und mündete für viele im Esoterik- Ego-Gesundheitstrip. Auch das spürte man in der Viktoria-Apotheke mit teilweise nervenaufreibender Kundschaft. Die Generationen von ApothekerInnen – über zwanzig ExkollektivistInnen trafen sich nach der Schließung zur letzten „Super-Supervision“ – hielten wenigstens eine Kollektiverrungenschaft bis zum Ende strikt durch: den Einheitslohn, sogar auf Nettobasis. Viel verdienen ließ sich hier für die fünf Aprobierten im Vergleich zu mancher Pillengoldgrube sowieso nicht.

Nun wird verzweifelten Pärchen, die plötzlich nicht mehr wissen, wo sie ihr Diaphragma-Gel herbekommen sollen – die wohl wichtigste Eigenforschungsentwicklung der Gründungsväter und -mütter neben dem Anti-Mücken- Mittel –, mit einem Zettelchen an der Tür der Weg gewiesen: Das Diagel wird neuerdings am anderen Ende der Großbeerenstraße gemischt, in der Zieten-Apotheke.

„Halt“ möchte man den Viktorianerinnen zurufen. Hier hab' ich einst mit rotem Kopf vor euch gestanden und gestammelt: Ich hätte gern dieses Zeugs da, was meine Freundin immer, ähm... Erfahren lächelnd halfen die Apothekerinnen über die Klippen des Neuer- Mann-Tests, und fröhlich pfeifend verließ man den Laden mit einer Tube in der Hand.

„Habt ihr die Creme wenigstens patentieren lassen?“ frage ich die letzte Chefin. Das sei keine Creme, sondern ein Gel, und das besondere sei eigentlich nur, daß es ungiftig sei, einigt sie sich mit einer gerade vorbeiradelnden Exkollegin. „Aber der alte Tresen, den habt ihr doch wohl nicht den Entrümpelungstypen überlassen, oder?“ Der stehe jetzt ganz brav gegenüber der Zieten-Apotheke in einem Bioladen. Verschwunden seien aber die bis 1994 draußen hängenden Werbeschilder mit dem Anarcho-A in APOtheke.

Kein Platz für Sentimentalitäten ließ der neue Hausbesitzer den Frauen, als der „top-modernisierte Altbau“ am 10. Oktober 1992 für das Mindestgebot von 1,6 Millionen Mark unter den Hammer des Immobilienauktionators Karhausen kam. Der neue Besitzer, die Siegfried Giede GmbH aus Idar- Oberstein, forderte eine um mehr als 100 Prozent erhöhte Miete.

„Wir mußten sehen, daß sich das Kollektiv für uns überlebt hat“, sagen die Viktorianerinnen in ihrem Nachruf an der Tür. „Die dauernde Mitarbeiterfluktuation hat einen ausgepowert“, so Oidtmann. Zur Aufgabe trugen wohl auch Kunden wie der Mann bei, der sich im Laden nach einem Mittel gegen den Einfluß von Hochspannungsleitungen auf seinen Körper erkundigte. Lang und breit habe man ihm erklärt, daß die Sache kompliziert sei: „Dann hab' ich dem auch noch 'ne Adresse von einer Bürgerini zu dem Komplex rausgesucht, und dann hat er wütend geschnaubt: Das dauert ja ewig, dann geh' ich eben in 'ne normale Apotheke.“

Genau dahin muß jetzt auch gehen, wer Nasenreflexöl, eine der vielen Tinkturen oder Heilkräutertee kaufen will.