„Das alles ist mächtig schön!“

■ Jedermann wird Übermann: 100 Jahre Uraufführung von Alfred Jarrys „Père Ubu“ – Erinnerungen an einen veritablen französischen Theaterskandal

Gegen Ende des Jahres 1891 steigt der achtzehnjährige Alfred- Henry Jarry in Paris vom Rennrad. Aus Rennes in der Bretagne mitgebracht hat er ein über Schülergenerationen hinweg gewachsenes theatralisches work in progress um den verschrobenen Oberlehrer Hébert, dessen Physikunterricht in denkwürdige pataphysische Katastrophen auszuarten pflegte. Unter Jarrys Händen avanciert der „Prophaiseur de Pfuisic“ zum „Père Ubu“, mit dem er fünf Jahre später einen für heutige Verhältnisse kaum vorstellbaren Theaterskandal heraufbeschwören sollte. Vorerst jedoch besucht Jarry die Classe préparatoire am Lycée Henri IV, Fachrichtung Rhétorique supérieure, wo ein gewisser Henri Bergson seine Theorie des Lachens unter die Schüler bringt.

Derweil sorgen andere für dramatische Furore: Seit dem Ende der achtziger Jahre erschüttert eine Welle anarchistischer Gewalt die besitzständlerische Bonhomie der sogenannten „opportunistischen Republik“. 1892 schickt die französische Justiz nacheinander die berühmten Bombenleger Ravachol, Vaillant und Henry auf die Guillotine, denen wenigstens zu Beginn ihrer kurzlebigen Karrieren in Teilen der Bevölkerung, insbesondere unter Künstlern und Intellektuellen, große Sympathie entgegenschlug. Der Dichter Laurent Tailhade etwa erklärte noch am Abend von Vaillants Bombenanschlag auf die Deputiertenkammer einem Journalisten: Was zählen schon ein paar Menschenleben, „si le geste est beau“.

Die Hypostasierung dieser „gestischen Schönheit“ zu einem Stück Weltliteratur erfolgte am 10. Dezember 1896 mit der Uraufführung von Ubu Roi: Vom Bühnengebäude des ThéÛtre de l'Oeuvre herab verkündete heute vor einhundert Jahren „Père Ubu“ der Welt, daß alles verballhornte Scheiße und er ihr König sei, „merdre!“ Schon dies erste Wort der Vorstellung führte im Publikum zu handfesten Auseinandersetzungen. Wenige erkannten damals – wie der anwesende Mallarmé – in dem monströsen Sprachwitz und fäkalen Sinngehalt der scheinbar infantilen Gewalt- und Allmachtsphantasien jene dämonische Wahrheit, mit der sich Ubu als Geburtshelfer des 20. Jahrhunderts einen Namen machte. Jarry selbst bemerkte später zu der überwiegend vernichtenden Kritik, es sei „nicht verwunderlich, daß das Publikum bestürzt war angesichts des eigenen gemeinen, in seinem ganzen Ausmaß bisher nicht vorgeführten Doubles, das ,aus der ewigen Dummheit des Menschen, der ewigen Geilheit, der ewigen Schlemmerei, der zur Tyrannei erhobenen Gemeinheit des Instinkts, der Prüderie, den Tugenden, dem Patriotismus und dem Ideal jener Leute besteht, die gut gespeist haben‘, wie Catulle Mendès es treffend formuliert hat“.

Ein gesellschaftskritisches Moment ist der Gestalt Ubus tatsächlich nicht abzusprechen; in ihm wird der Jedermann zum „Übermann“. Das Geheimnis seiner Macht hat Jarry in dem gleichnamigen Roman „Le SurmÛle“ (1902) präzisiert: „Die Anpassung an die Umwelt, die sogenannte Mimikry, ist ein Lebenserhaltungsgesetz. Es ist weniger sicher, Lebewesen zu töten, die schwächer sind als man selbst, als sie nachzuahmen. Nicht die Stärksten überleben, denn sie sind allein. Es ist eine hohe Kunst, seine Seele nach der seines Hausmeisters zu formen.“ Nicht von ungefähr zitiert Jarry hier fast wörtlich seinen ehemaligen Lehrer. Bergson erkannte in der modernen „Arbeitsteiligkeit“ die Gefahr „separatistischer Tendenzen“, im Lachen dagegen einen sozialen Automatismus, „die eigene Person nach der des anderen zu formen“ und die Gesellschaft zusammenzuhalten. Das Stolpern oder Hinfallen etwa, Paradebeispiel der lächerlichen Situation, werde von unseren Mitmenschen intuitiv allegorisch begriffen: als ein aus der Rolle – dem sozialen Rahmen – fallen und als solches verlacht, das heißt aber letztlich, zur Räson gebracht. Einer solchen Lach- und Schießgesellschaft hat Jarry ein Denkmal in Ubus „Enthirnungsmaschine“ gesetzt, die immer sonntags unter martialischen Gesängen und zur allgemeinen Belustigung den einen oder anderen Biedermann zu „phynance“ und „merdre“ verhackstückt.

Es ist aber das eigentlich Beunruhigende an der Gestalt Ubus, daß sie in einfacher Gesellschaftskritik nicht aufgeht. Wie sagte er doch selbst: „Das alles ist mächtig schön, aber keiner hört mir zu.“ Sonst stieße man in den Texten Jarrys auf eine in ihrer Regressivität sich selbst verzehrende, absolute Ironie, die jede Kritik unterläuft. Radikaler als vor ihm Kleist und gut zehn Jahre nach ihm Edward Gordon Craig mit seiner Konzeption des Schauspielers als „Übermarionette“ bittet Jarry den Menschen als monströse Gliederpuppe zum Totentanz. In deren transzendenzloser Physis bildet „die Seele bloß eine aus ihr resultierende Turbulenz“. So faszinierte Jarry an den Figuren eines Henri de Régnier, „daß der Autor seine Kreaturen umgedreht und ihre Seele nach außen gekehrt hat: die Seele ist ein Tick“. Am Abend der Uraufführung betritt der Autor selbst die Bühne, um mit monotoner Stimme – Zeitgenossen erinnerte sie an einen Phonographen – ein paar einführende Worte ans Publikum zu richten: „Es hat einigen Schauspielern gefallen, sich für zwei Abende unpersönlich zu machen und unter einer Maske zu spielen, um vollkommen den inneren Menschen und die Seele der großen Marionetten zu verkörpern.“ Daß eine spätere Kritikerin Ubu mit „Paul Klees magischen Hampelmännern“ verglich, gibt einer Beobachtung von Walter Benjamin in „Erfahrung und Armut“ (1933) das Stichwort: „Klees Figuren sind gleichsam auf dem Reißbrett entworfen und gehorchen [...] im Ausdruck ihrer Mienen vor allem dem Innern. Dem Innern mehr als der Innerlichkeit: Das macht sie barbarisch.“ Cornegidouille! Christian Hansen