Lew Kopelew – ein geborener Optimist

„Schwarzer Major“ hieß er im Krieg, „roter Imperialist“ nannte er sich selbst. Als Stalin starb, saß er in Lagerhaft und weinte heimlich über dessen Tod. Heute sagt Lew Kopelew, er habe viel Glück gehabt in seinem Leben  ■ Von Michael Schornstheimer

„Glück ist das, was schon war, daß man glücklich war, erkennt man meistens nachträglich“, sagt Lew Kopelew. Das kleine Glück hat er im Gefängnis und im Lager kennengelernt: Ein paar Züge einer Zigarette, nach qualvollen Tagen ohne Tabak. Einmal im frischen Gras liegen und die Sonnenstrahlen auf der Haut spüren. Die ersten Schritte in Freiheit gehen, auch wenn die Bitterkälte durch die fadenscheinigen Klamotten dringt. „Ich freue mich an gewöhnlichen Dingen, an gutem Wetter, an gutem Essen, an einem guten Schluck.“

Seine Lebensgeschichte bzw. ein Teil davon, nämlich bis 1954, ist jetzt wieder zugänglich, als Taschenbuch im Göttinger Steidl Verlag. Drei Bände, die – nicht unvernünftig – entgegen der Chronologie publiziert worden sind. Der letzte Band über Kindheit und Jugend ist vor ein paar Wochen herausgekommen. Anfang 1996 erschien der wichtigste Band, „Aufbewahren für alle Zeit“, allerdings schlampig ediert, mit einem Haufen ärgerlicher Druckfehler. Band vier, die Jahre ab 1954, erscheint in ein paar Monaten.

Im Frühjahr 1945 zog Lew Kopelew als Major der Roten Armee mit seinen Truppen in Ostpreußen ein. Er betrachtete sich selbst eher als Befreier denn als Sieger. Um so empörter registrierte er, daß seine eigenen Leute plünderten, brandschatzten, vergewaltigten und mordeten. Nicht nur wild gewordene Soldateska, selbst Offiziere machten mit. Lew Kopelew schritt ein, wo er konnte, milderte, verhinderte, zog zur Rechenschaft, beschwerte sich. Darauf hatten seine Gegner in der Armee nur gewartet. Sein Intimfeind lauerte schon lange, nun war der passende Vorwand gefunden: „Mitleid mit dem Feind“ und „Bürgerlicher Humanismus“, lauteten die Vorwürfe. Sie verhafteten ihn, nahmen ihm seine Pistole ab und die Ordensbänder, rissen ihm die Schulterstücke herunter und warfen ihn in die nächstschlechteste Zelle, zusammen mit feindlichen Gefangenen, deutscher Feldpolizei! Damit begann für Lew Kopelew eine Odyssee durch Gefängnisse und Lager, die insgesamt zehn Jahre dauern sollte.

Der Vermerk „aufbewahren für alle Zeit“, in wörtlicher Übersetzung „ewig aufbewahren“, stand auf allen Akten der politischen Sträflinge. Kein tatsächlicher oder vermeintlicher Staatsfeind sollte so jemals seiner Strafe entgehen können. Nun ist es – Ironie der Geschichte – Lew Kopelew, der die Erinnerung „für ewig aufbewahrt“. Die Erinnerung an die bolschewistische Sowjetunion, die einst angetreten war, die Knechtschaft der ausgebeuteten Arbeiter und Bauern abzuschaffen und dafür das „Menschenrecht“ zu erkämpfen. Mit dem Resultat, daß sie ihr Volk versklavte und das Menschenrecht mit Füßen trat.

Paradoxerweise blieb Lew Kopelew während seiner langen Haft Leninist, Stalinist, „roter Imperialist“. Er versuchte sich und seine Mitgefangenen zu trösten: Wer in einem Zug fährt und vom Schaffner schlecht behandelt wird, vielleicht sogar ins Klo eingesperrt wird, kann doch dafür nicht den Lokomotivführer verantwortlich machen oder den Zug oder sogar die Strecke. Nur nicht zweifeln, um nicht zu verzweifeln: „Ich konnte überleben aus drei Gründen: Wenn man nicht nur an sich denkt, sondern auch an andere, und wenn man Humor hat, und wenn man sich nicht beklagt.“

Selbst in seinen Memoiren beklagt er sich nicht. Wut, Resignation, Verzweiflung, all diese Empfindungen deutet Kopelew nur sehr dezent an. Statt seine Empörung über das ihm angetane Unrecht laut herauszuschreien, macht er sich zum Sprachrohr seiner Mithäftlinge, und läßt sie – in Ichform – über ihr Schicksal berichten. „Das Buch entstand ja nicht als Buch“, erläutert Lew Kopelew die Entstehungsgeschichte. „Zuerst waren es mündliche Berichte. Als ich meine zweite Frau Raja kennenlernte, bat sie mich, ihr alles zu erzählen, damit ich es loswerde. Und da habe ich ihr erzählt, immer wieder. Und aus diesen Gesprächen entstanden Notizen. Und dann in den sechziger Jahren wurde es wieder gefährlich, und wir mußten unsere Unterlagen verstecken.“ Westliche Freunde, die Lew Kopelew liebevoll „Brieftauben“ nennt, brachten die Notizen in Sicherheit, bis sie schließlich in den USA landeten, bei einem Verlegerehepaar, das Lew Kopelew in der Küche von Nadeschda Mandelschtam kennengelernt hatte. Diese drängten ihn, die Erinnerungen nicht nur aufzubewahren, sondern auch zu publizieren.

Geboren wurde Lew Kopelew 1912, in Kiew. Zu Hause wurde ukrainisch gesprochen. Die Eltern stritten mit den Großeltern auf jiddisch. Mit den Spielkameraden aus der Nachbarschaft, mit seinem Kindermädchen und gelegentlich sogar mit seinem Bruder sprach er deutsch. Russisch und Polnisch kamen selbstverständlich hinzu. Außerdem übte er sich in Esperanto. „Von Kind auf lebte ich in einer multinationalen Umgebung“, schreibt Kopelew in seinen Jugenderinnerungen, „und reagierte empfindlich auf unterschwellige Chauvinismen.“ Mit Appetit aß er Schweinefleisch und zur Bar- Mizwa ließ er sich für krank erklären. Bis heute spielt für Lew Kopelew seine jüdische Herkunft keine Rolle.

Allerdings faszinierte ihn früh die Idee des „neuen Menschen“. Bereits mit elf Jahren, nach der Lektüre von Lassalle und Liebknecht, stand für ihn fest: „Ich bin ein überzeugter Kommunist.“ Der überzeugte Kommunist hielt mit seinen Ansichten nicht hinterm Berg. 17 Jahre war er alt, als er Flugblätter gegen die Verhaftung von Bolschewisten-Leninisten verfaßte und verteilte. Er sah „stalinsche Büttel“ am Werk, die die Erfolge der Revolution gefährdeten. Das roch nach Trotzkismus. Er wurde festgenommen und blieb eine Woche in Haft. Später, Mitte der dreißiger Jahre, fand er deswegen in Moskau keine Arbeit, bis er eine prominente Führsprecherin gewann: Lenins Schwester: „Maria Uljanowa war die Chefin eines Büros für Klagen aus der Bevölkerung, und die hat schnell den Direktor des Sprachinstituts angerufen. Ich hörte das Gespräch mit, wo sie ganz verächtlich sagte, ,...ach, Sie brauchen ein ,Papierchen‘, gut, sie bekommen ,ein Papierchen‘...‘ und dieses Papierchen war ein Schutzbrief für mich und meinen Bruder.“

So kam Lew Kopelew noch heil durch die „Säuberungen“ der dreißiger Jahre. Die Moskauer Schauprozesse erkannte er zwar als haltlose Inszenierungen der Macht. Aber noch glaubte er, daß sie zur Stabilisierung der Revolution beitragen könnten. Selbst in den fünfziger Jahren, während seiner Haftzeit im Sonderlager Scharaschka („Tröste meine Trauer“), sah sich Kopelew als Marxist, gefangengenommen von schlechten Marxisten. Als Stalin starb, verkroch er sich, damit niemand seine Tränen sehen konnte.

„Langes Lesen, langes Diskutieren, langes Nachdenken“ waren nötig, bis Lew Kopelew die Lehre dieses blutigen Jahrhunderts begriffen hatte, die er heute „Sacharows Vermächtnis“ nennt: die Dreieinheit von Politik, Wissenschaft und Moral.

„Die unpolitische, unideologische, die menschliche Moral, wie sie in den Zehn Geboten der Bergpredigt formuliert wurde und auch in den Lehren von Laotse und Buddha waren gültig für die Praxis und Theorie von Tolstoi und Dr. Schweitzer. Heute, nach Hiroschima und Tschernobyl, ist unmoralische Politik lebensgefährlich für alle. Auch für die Politiker. Ebenso die Wissenschaft. Eine unpolitische und unmoralische Wissenschaft, ,reine‘ Wissenschaft, können wir uns nicht mehr leisten. Deshalb brauchen wir diese einfache, aber doch sehr schwer zu erreichende Dreieinigkeit. Aber ich glaube, daß wir es schaffen können. Als Optimist wird man ja geboren. Wie mit einer bestimmten Augenfarbe.“

Lew Kopelew: (in zeitlicher Chronologie):

„Schuf mir einen Götzen“, Band 1, 420 S., 19,80 DM. „Aufbewahren für alle Zeit“, Band 2, 624 S., 24,80 DM. „Tröste meine Trauer“, Band 3, 336 S., 19,80 DM. Alle Steidl Verlag TB, Göttingen 1996. Band 4, „Kinder und Stiefkinder der Revolution“, erscheint im Frühjahr 1997.