: Singen ohne Worte
Die einfachsten Geschichten sind die besten: Mit Holsts „Savitri“ und Delgados „Death and the Madman“ hat die Neue Opernbühne Berlin zwei unbekannte Kammeropern ausgegraben ■ Von Miriam Hoffmeyer
Eine junge Frau besiegt den Tod durch die Macht ihrer Liebe. Ein todessüchtiger Irrer triumphiert über das Leben. Die einfachsten Geschichten sind die besten, und wenn sie ineinandergreifen, haben sie mehr Facetten als die raffinierteste Story. Die Neue Opernbühne Berlin hat zwei sehr kurze, praktisch unbekannte Kammeropern miteinander kombiniert: eine Ausgrabung und einen kostbaren Import. Auf Gustav Holsts „Savitri“ von 1908, dem eine Episode des Hindu-Epos „Mahabharata“ zugrunde liegt, folgt „Death and the Madman“ des portugiesischen Komponisten Alexandre Delgado.
Aus dem Schweigen erhebt sich eine unbegleitete Männerstimme: „I am death.“ Der A-cappella-Beginn von „Savitri“ ist in der Operngeschichte einzigartig. Dem gnadenlos sanften, getragenen Gesang des Todes antwortet die leidenschaftliche Stimme der jungen Savitri, die ihren Mann verteidigt. Eine Bratsche setzt ein und erst dann das ganze kleine Orchester.
Die Inszenierung von Alexander Paeffgen betont den feierlichen Ernst des fast 2.500 Jahre alten Mythos. Die Sänger agieren statisch. Langsam schreitet der Tod heran, ein projektierter riesenhafter Schatten. Asymmetrische Kästen bilden einen stilisierten Wald um Savitris Haus (Bühne: Elli Strauven). Die vier Chorsängerinnen stecken in den Kästen wie in Särgen, nur ihre weißen Gesichter sind schemenhaft erkennbar. Sie singen ohne Worte, als wären sie Instrumente im Orchester, das durch die menschlichen Stimmen eine ungewöhnliche Klangfarbe bekommt. Als Savitri mit heiliger List das Leben ihres Mannes gerettet hat, schleicht der Tod tief gebückt davon. Während das Orchester in finalem Jubel aufbraust, schreitet das Paar feierlich Richtung Morgenröte. Ein extrem verbrauchtes Bild wird durch das ungeheure Alter des Mythos verjüngt und wieder schön.
Auch in „Death and the Madman“ steht der Tod im Mittelpunkt. Alexandre Delgado – der das Orchester der Neuen Opernbühne selbst dirigiert – schrieb die Kammeroper 1994 im Auftrag der Stadt Lissabon, der damaligen Kulturhauptstadt Europas. Der Handlung liegt eine Groteske des portugiesischen Schriftstellers Raul Brandao zugrunde. Wie in so vielen Texten der 20er Jahre geht es um einen Anarchisten, einen Mister Millionär, der sich mit dem Bürgermeister zusammen in die Luft sprengen will. Dessen Frau kommt hinzu – und bringt sich schleunigst in Sicherheit, statt ihrem Mann beizustehen. Im vermeintlich letzten Stündchen des Bürgermeisters entlarvt der scharfsinnige Verrückte dessen ganzes Leben als hohlen Schein.
In den ersten Takten der Oper erklingen alle Themen, die in acht Variationen ausgearbeitet werden. Das Orchester ist bis aufs äußerste reduziert: Vier Streicher, vier Bläser und ein Cembalo spielen die dynamische, jazzige Musik, die sich gegen Ende hin auf ein schier irrwitziges Tempo beschleunigt. Die Sänger dürfen aus den erhabenen in komische Rollen schlüpfen. Jörg Gottschick spielt wieder den Tod – jetzt in Gestalt des unheimlich beweglichen Irren. Nur vom Cembalo begleitet, singt er von seinen Visionen einer besseren Welt nach der Explosion, in der es nichts – und also auch keinen Tod – mehr geben wird. Bei diesem Traum kommt die hektisch betriebsame Musik plötzlich zur Ruhe. Michaela Schuster singt nach den lieblichen Melodien Savitris die parodistischen Koloraturen, die die Hohlheit der Bürgermeistersgattin vorführen. Und Carl Halvorson, als Satyavan etwas blaß, ist ein hinreißend feiger, aufgeblasener Bürgermeister.
Das Lächerliche spiegelt das Erhabene, Mythos und Farce sind zwei Seiten derselben Medaille. Der Stoff mit dem Marmormuster, auf dem die indische Legende spielte, bedeckt nun den pompösen Schreibtisch des Bürgermeisters. Und die sargähnlichen Kästen des „Savitri“-Bühnenbilds bilden das Vorzimmer des subalternen Beamten Cooper (Tim Herbert), der seinem Chef auch nicht helfen kann. Denn schließlich drückt Mister Millionär auf den großen roten Knopf. Die Musik verstummt abrupt. Und der Bürgermeister spricht ergriffen die letzten Worte der Oper: „What a son of a bitch!“
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