Ideales Pflaster für einen Konflikt

Stadt im Film (IX): Hamburg. Es ist eine Schrabbelidylle, 19. Jahrhundert und Jetzt zugleich. Das Ziel ist Versöhnung. In den Filmen Jürgen Rolands hat jede Stube eine Hinterstube, jede Treppe eine Hintertreppe  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Ganz Hamburg ist ein Dorf. Die Dorfstraße heißt Reeperbahn. Sie umfaßt ungefähr fünf Straßenecken, fünfzig Läden und hundertfünfzig Schilder auf der einen Seite und auf der anderen Seite ungefähr genauso viele Ecken, die Davidswache, ein paar weniger Läden und genauso viele Schilder. Die Anzahl möglicher Kamerafahrten ist begrenzt. Unbegrenzt ist die mögliche Anzahl von Schüssen quer über die Straße, vorn im Bild immer ein Autodach, die in zwei möglichen Varianten aufgelöst werden: entweder per Zoom in die Szene gegenüber oder per Schwenk in die Szene auf dem eigenen Bürgersteig.

Die Figuren einer Bürgersteigszene entkommen dem Bild nach links, nach rechts, in eine Tür oder zu Boden fallend. Die Tür ist manchmal ein dunkles Loch, manchmal eine zugige Flucht, manchmal die scheppernde Ladentür. Von innen ist das Geschehen leichter zu überblicken, sieht deshalb aber nicht weniger gefährlich aus.

Die Uhren ticken etwas schneller auf dem Dorf, weil die Tage so lang sind und die Discobeats verschleißen und das Blut raus will aus dem Leib, um auf das Pflaster verspritzt zu werden oder aufs Laken. Früher gab es Winterhuder Pils, das ist rar geworden. Die VW-Käfer waren irgendwann nicht mehr bleigrau und muschelweiß, sondern orange und himmelblau. Den Männern wachsen die Matten, bis man selbst bei den Polizisten die Ohren nicht mehr sieht. Früher hatten sie Uniformen mit weißen Schirmmützen und weißen Pistolengürteln- und Halftern. Das wirkte sehr maritim.

Aber nicht nur die Polizisten tragen – sich ändernde – Uniformen. Die „Portiers“ tragen dicke Bäuche und lange Fracks, die Bosse Krawatten, die kleinen Kriminellen Rollis unter der Lederjacke und die Huren schweres Make-up, kurze Röcke und Stiefelchen. Ladeninhaber und Garderobieren tragen Kittel. Wer keine Uniform trägt, ist Kundschaft und muß zahlen. Oder wird vermöbelt.

Anders als in anderen Dörfern kann hier, wer unbedingt will, in der ersten Generation heimisch werden. Der Zuzug ist eine Sache des Willens und der Körpersprache; für Frauen ist er leichter, die Aufstiegsmöglichkeiten sind aber begrenzt. Wenn es hart auf hart kommt, laufen die Frauen davon, die Männer fahren ein.

Die Fenster haben einfache Scheiben. Drinnen Neonlicht und außen ein Schild, das Jugendlichen den Eintritt versagt. In den Scheiben spiegelt sich ein weißes Bürgerhaus, vier Stockwerke hoch. Es zeigt sich so klar wie der Bug eines Dampfers, weil die Nachbarhäuser das Bombardement nicht überstanden haben.

Die Idylle von St. Pauli aber hat den Krieg, den Abriß, den Sozialstaat und das Containerschiff überlebt. Es ist eine Schrabbelidylle, 19. Jahrhundert und Jetzt zugleich: Bagatellen, Verbrechen, Armut, Volksweisheit: „Wer hier erst einmal gelandet ist – das ist wie ein Moor.“

So heißt es in dem Film „Davidswache“ von Jürgen Roland, dem Prototyp aus dem Jahr 1964, der Backstein in tiefem Schwarz, die Flure auf dem Revier spiegelnd lackiert, Gitter vor den Fenstern.

Am Tresen der Davidswache ist mehr los als an jedem anderen Tresen der Reeperbahn. Erzürnte Parteien von Lokalstreits setzen ihre Faustkämpfe in der Wache fort, zerknirschte Freier melden alle fünf Minuten den Verlust einer Brieftasche, torkelnde U.S. Marines werden in Richtung Ausnüchterungszelle geschleift. Behäbige Polizisten mit viel Pflichtgefühl und ohne Illusionen hieven sich beizeiten über den Tresen, um Ordnung zu schaffen.

Der Kiez Jürgen Rolands ist das Mikrosystem der Hafenstadt, ein sichtbares und undurchschaubares Geflecht des exemplarischen Kapitalismus als exemplarischem Abgrund. Hier warnen sich die Huren: „Von dem kriegst du keine Mark. Der scheißt dich vor 'n Koffer.“ Jede Stube hat eine Hinterstube, jedes Treppenhaus eine Hintertreppe. Satellitenorte sind: der Hafen, der Hauptbahnhof, das Schanzenviertel und die anonymen Wohnanlagen des östlichen Altona.

Welch ein glücklicher Umstand für eine Filmstadt, ein Zentrum zu haben, in dem das Imaginäre der Besucher sich konvex verzerrt und der symbolische Tausch der Einheimischen in so klassischer Form abzubilden ist: „Ja. Wir machen 'n bißchen selber unsere Gesetze, und da is' der Eichstrich beim Mord.“ (Aus Jürgen Rolands „Die Engel von St. Pauli“ aus dem Jahr 1969)

Am Anfang von „Davidswache“ heißt es aus dem Off: „Die Postkarten-Reeperbahn aus Filmen und Schlagern hat es nie gegeben“ – was natürlich die bonbonfarbenen Genrebilder der „Großen Freiheit Nr. 7“ meint. Was aber bleibt, ist die archaische Ordnung der Prostitution – letztlich die Vorstellung, daß der bürgerliche Diskurs ungültig ist. Jede Frau könnte eine Hure sein, so sie denn will.

Das blonde Mädchen kommt mit dem Dampfer über die Elbe, steigt im Villenviertel in die S-Bahn um, steigt wieder um (in die geriffelte U-Bahn mit den orangefarbenen Türen, das eigentliche Wahrzeichen Hamburgs) und läuft dann über den Kiez, wo man für fünf Sekunden fürchten muß, daß der dunkle Schlund eines Nachtklubs sie verschluckt. Dann aber folgt die Kamera ihrem Weg in die barocke Kirche St. Michaelis (den Michel) – ein Chormädchen.

Der komplizierte Weg unterliegt dem komplizierten Skript von Hark Bohms Film „Moritz, lieber Moritz“ (1978), der eine Liebesgeschichte über Klassen hinweg andeutet. Moritz wohnt nämlich in einer weißen Villa an der Elbchaussee; auch wenn sie gerade versteigert und die Möbel gepfändet werden.

Das „andere Hamburg“ – nämlich das eigentliche – zeigt Bohm anhand einer Rockband, deren versöhnlicher Gitarrist buchstäblich den „blue collar“ trägt, das Zeichen des Arbeiters. Den „white collar“ trägt natürlich Moritz, der vom Kopfsteinpflaster in den Proberaum gezogen wird wegen seiner „echten Gießkanne“, ein silbernes Saxophon.

Diese Versöhnung, über Interessen und Klassen hinweg, ist das Leitmotiv jedes „echten“ hamburgischen Films. Der Sarkasmus ist Theater, der Zynismus eine Berufskrankheit: Am Ende sind sie – nuschel, nuschel – alle doch irgendwie schwer in Ordnung, Pragmatiker, soziale Jongleure.

Deshalb bleibt der Kiez das beste Beispiel, wie Jürgen Roland weiß, der mit der Serie „Großstadtrevier“ vor zehn Jahren begann, den Mikrokosmos als solchen zu beschreiben: als Verschränkung von Kleinkriminalität und Alltag. Hamburg, gedrungen, zugig, mit einer verläßlichen Dichte politischer Plakatierung und Graffiti, bleibt das ideale Pflaster eines Konflikts, der nur zu lösen ist, wenn man weiß, daß er nicht zu lösen ist.

In einer frischeren Folge („Lebensretter“, Buch Dieter Hirschberg) begleitet das PolizistInnenteam einen alten Verlierer des Milieus zu seiner eigenen Hochhauswohnung, deren Tür er mit einem Dietrich öffnet. „Die Macht der Gewohnheit“, sagt er, ein offenes Wort, aber noch lange kein Geständnis.

Mit Dank für Unterstützung an Peter Thau vom Videoinstitut der Theaterwissenschaftler an der FU Berlin