Vogel auf Nachtflug

■ Der russische Pianist Igor Shukow begeisterte in der Musikhalle

Schon vorher wunderte man sich. Igor Shukow? Nie gehört. Eine Bildungslücke? Nicht direkt. Der 60jährige Moskauer, der am Mittwoch in der Musikhalle zu hören war, tritt seit 1957 im Westen auf, war aber zwischenzeitlich lange Dirigent und wenig erfolgreich. Erst 1994 tauchte er wieder auf, triumphal, mit einem Soloabend im Münchner Herkulessaal.

Der Pianist im blauen Jackett hastet auf kürzestem Weg zum Klavier und legt los. Vorher freilich setzt er sich schnell die Brille auf. Wozu braucht einer, der auswendig spielt, eine Brille? Zum Nach-Innen-Schauen wohl nicht, denn er tauchte Prokofieffs lyrisch-moderne Visions fugitives op. 22 in eher trockenes, klares Licht, spielte sie extrovertiert und mehr der Struktur nachhorchend denn der Melancholie. Er gab dem Stuhl das Seine, spielte gleichsam von der Lehne her, vom Rücken. Enorme Steigerungen der Dynamik, erstaunliche klangliche Stauungen und Ausbrüche kamen aus Armen und Fingern. Der Körper lehnte sich entspannt zurück. Shukow spielt ohne Getue, ohne Posen und Effekte. Seine makellose Technik ist effektvoll genug.

Chopins dritte Sonate h-moll nahm er gleichsam aus Sicht des furiosen Schlußsatzes der berühmten zweiten (der mit dem Trauermarsch). Alles strömte schnell dahin, neigte zu Wirbel und Welle, die einzelnen Noten waren mitgerissen im Sog strudelnder Arpeggien, selbst dem zweiten Thema des Kopfsatzes blieb keine Zeit zum ariosen Flanieren, der Nachtgesang im Largo war eher ein Nachtflug mit Zielfluggerät. Aber der eines Vogels. Nicht fühllos.

Nach der Pause gab er Skrjabin soviel Chopinsche Melancholie mit, als gerade hineinpaßt in die pianistischen Lichtspiele des russischen Frühavantgardisten. Auch der Begeisterung im Parkett begegnete er chromlos: mit über dem Herzen gekreuzten Armen und gerührtem Wackeln des Kopfes. Als sei Rußland immer noch so nett wie damals.

Stefan Siegert