Lesesaal der Geschichte
: Tontons letztes Geschenk

■ Heute wird in Paris Mitterands Nationalbibliothek eingeweiht

Es gibt Weihnachtsgeschenke, die man lieber nicht hätte. Die französische Nationalbibliothek „François Mitterrand“, die Staatspräsident Jacques Chirac heute einweiht und die am Freitag für das große Publikum öffnet, ist auf dem besten Wege, so eines zu werden.

Die Idee zu der selbstverständlich „größten“ und „modernsten“ Bibliothek Frankreichs stammt noch von Onkel – Tonton – Mitterrand. Er war es auch, der im Revolutionsjubiläumsjahr 1989 das Modell des französischen Stararchitekten Dominique Perrault auswählte: Vier 80 Meter hohe Türme, die wie aufgeschlagene Bücher die Ecken der Bibliothek bilden und in deren oberen elf Etagen fortan die Literatur lagern soll. Die lesenden Menschen müssen bei Perrault in den Untergrund. Sie werden in den orangerot mit Teppich ausgelegten Kellergeschossen arbeiten, die sich um einen, für normale Sterbliche unzugänglichen, bepflanzten rechteckigen Innenhof gruppieren.

Für Tonton war es der letzte große Kulturbau. Nach der Grande Arche de la Défense im Pariser Westen und der Glaspyramide vor dem Louvre hatte er seine Bautätigkeit kontinuierlich weiter in den einst proletarischen Osten der Stadt verlagert: Dort ließ er die Oper an der Bastille und das neue Finanzministerium in Bercy errichten. Und dort beschert er den Parisern auf dem einstigen Industriegebiet am rechten Seine-Ufer jetzt seine allerteuerste Hinterlassenschaft. 8 Milliarden Franc (zirka 2,2 Milliarden Mark) hat die Bibliothek bislang gekostet – tropische Regenhölzer für die Esplanade, Fensterputzroboter, computerisierte Arbeitsplätze und Leselampen à 6.982 Franc (zirka 2.115 Mark) das Stück inklusive. Inbegriffen sind auch Kosten für Tausende von Holzklappen vor den Glasfenstern an den vier Türmen der Bibliothek. Sie kamen nachträglich hinzu, denn im Plan war vergessen worden, daß Bücher im Sonnenlicht vergilben.

Doch für die Benutzer der Bibliothek ist damit noch nicht alles abgegolten. Sie kommen überhaupt nur rein, wenn sie mindestens 18 Jahre alt sind. Dann müssen sie – im Gegensatz zu allen anderen öffentlichen Lesehallen Frankreichs – Eintritt zahlen: 20 Franc (zirka 6 Mark) pro Tag bzw. 200 Franc im Jahr. Dafür haben sie Zugang zu den 1.697 Leseplätzen und können in 180.000 Publikationen sowie Mikrofiches und CD-Roms stöbern. Die 2.100 Plätze für Wissenschaftler und andere Spezialisten werden im zweiten Halbjahr 1998 eröffnet. Erst für sie soll die Mehrheit der 10 Millionen kostbaren Bücher aus der alten Nationalbibliothek in der Rue Richelieu abtransportiert werden.

Die Franzosen sind konservative Leute. Vielleicht liegt es daran, daß sie sich bislang nicht für die neue Bibliothek statt des alten „Gedächtnis der Nation“ erwärmen können. Vielleicht sind sie aber auch von zahlreichen „großen Bauwerken“ leidgeprüft: Die Marmorplatten an der 1989 eröffneten Arche de la Défense sind rissig geworden. Abstürzende Fassadenteile von der 1990 neueröffneten Oper haben mehrfach knapp Passanten verfehlt. Und das rundum verrostete Museum Beaubourg (Eröffnung: 1977) wird für ziemlich genau seine ursprünglichen Baukosten totalsaniert.

Chirac, der selbst gerade ein Museum ausbauen läßt, hat sich aus der Bibliotheksaffäre herausgehalten. Nachdem er kürzlich die neue Seine-Brücke in der Nähe der Bibliothek „Charles- de-Gaulle“ nannte, wählte er nur den Proporznamen „François Mitterrand“. Damit hat er zwar konservative Politiker und auch ein paar Intellektuelle verärgert, von denen manche ihren Expräsidenten für den „Totengräber der französischen Kultur“ halten. Aber immerhin ist klar: Die Verantwortung hat Tonton. Dorothea Hahn