Wagner einmal beim Wort genommen

Eine Spielverderberinszenierung: Harry Kupfers „Lohengrin“ in der Staatsoper Unter den Linden  ■ Von Sabine Zurmühl

Dunkelheit – verblüffte Stille –, herzliche, empörte Buhs.

Am Sonntag abend in der Berliner Staatsoper war die Ablehnung der „Lohengrin“-Inszenierung Harry Kupfers unüberhörbar. Kupfer hat aus der Märchenoper Ludwigs II., aus dieser Kinderoper mit dem Schwanenmann und der frommen Elsa, eine schwarze Tragödie gemacht, deren Fortgang das verehrte Publikum mit geschockter Spannung und viel Unverständnis verfolgte.

Draußen hatte es vorher noch Weihnachtsmarktstimmung gegeben, die gebrannten Mandeln hatten geduftet, und ein frierender, aber tadellos in Smoking gekleideter, junger russischer Sänger hatte unmittelbar neben dem Operneingang irgend etwas sehr Unwagnerisches sehr schön gesungen – gegen Kleingeld. Gegen Großgeld gab es die Karten drinnen – viele üppige Abendkleider, Sekt und Brezeln, Billettabreißer mit rotschwarzem Paletot, was will man mehr?

Und dann eine Spielverderberinszenierung. Kupfer hat die helle Tradition dieser Oper, die noch im letzten Bayreuth-„Lohengrin“ von Werner Herzog mit seinem Eis und Schnee gewahrt blieb, gekontert wie das Negativ eines Fotos. Er hat Wagners Einschätzung, dies sei eigentlich seine traurigste Oper, beim Wort genommen.

Kupfer setzt eine Prämisse, ein augenfälliges Ausgangsbild: das gemeinsame Liebeslager Elsas und ihres Bruders Gottfried, einen Geschwisterinzest, der Elsa in Unruhe versetzt, für dessen Entsühnung sie sich Lohengrin herbeiphantasiert.

Lohengrin also nicht mehr als Befreiungsheld für eine höfische Gesellschaft im allgemeinen und Elsa im besonderen, sondern Lohengrin hier bei Kupfer als steifer Zombie, der zu seinen Gesangspassagen hereingerollt wird auf einer Art hoher Kanzel, ein Ritter ohne Unterleib, durch den ein neonscharfes Schwertkreuz hindurchsticht, ein Deus ex machina, der nur in Elsas Kopf existiert...

Elsa ist eine staunende, somnambule Alice im Wunderland, die die Anschuldigung, ihren Bruder und künftigen Herrscher Brabants beseitigt zu haben, nicht in ihrer politischen Dimension aufnimmt. Der Hof Brabants wird vom Bühnenbildner Schavernoch im Berliner Olympiastadion angesiedelt – zackige, schwarze Soldaten auf zackigen, silbernen Tribünen. Elsa bleibt ständig durch Gazevorhänge von der Realität dieser Gesellschaft getrennt, sie zwingt sich ihren Helden kraft Imagination herbei. Ihr Fixpunkt bleibt das Geschwisterlager mit dem Schwanenflügel, der weißen Helle, der sperrigen Weichheit.

Die einzige Person, von der sie zu einem realen Kontakt gezwungen wird, ist Ortrud, die „politische“ Frau mit Machtambitionen, die Intrigantin, die heidnische Zauberin. „Ein politischer Mann ist widerlich; ein politisches Weib aber grauenhaft“, hatte Wagner in einem seiner reaktionären Anfälle inmitten revolutionärer Barrikaden der 48er Jahre an Liszt über diese Ortrud geschrieben. Gleichzeitig zollte er ihr deutlichen Respekt: Sie sei „furchtbar großartig“. (Wie oft hat sich das in Aufführungen auch sängerisch bewahrheitet, indem die Darstellerin der Ortrud die der Elsa an die Wand sang – wie weiland Christa Ludwig die Elisabeth Grümmer...)

Im Zwiegesang der beiden Frauen kam es zu den brillantesten Momenten des Abends, zu den intimsten. Ortrud senkt das Gift des Zweifels in Elsas Herz. Sie wickelt Elsas Brautschleier, in dem diese eine einsame Hochzeit ohne Mann gefeiert hat, schließlich wie eine Zwangsjacke um Elsa und zwingt sie zum Zuhören. Elsa kann sich kein Wachs in die Ohren träufeln wie Odysseus, sie bricht das „Nie sollst du mich befragen“-Verbot an Lohengrin, dringt auf Klarheit, an der sie stirbt.

Zusätzlicher Schlußeklat bei Kupfer: Er läßt den Bruder Gottfried, dessen Verschwinden ja Anlaß der gesamten Handlung ist, eben nicht zurückkehren – kein rührender, blonder Junge als die Zukunft Brabants, kein staatstragendes Finale, sondern er zeigt die von Telramund und Ortrud triumphierend hereingeschleppte, blutige Schwanenhülle, ecco!

Man muß diese strenge Neuinterpretation Kupfers nicht mögen, aber sie geht auf. Das Orchester der Staatsoper unter Daniel Barenboim wäre öfter leiser und filigraner zu wünschen gewesen; Peter Seiffert als Lohengrin war stimmlich nahezu makellos; Emily Magee als Elsa und Deborah Polaski als Ortrud – beide sind zu ihrem Rollendebüt zu beglückwünschen.

„Lohengrin“. Regie: Harry Kupfer; Dirigent: Daniel Barenboim. Nächste Vorstellungen: 18., 21. und 28. 12.; 2. und 5. 1. 1997