Schreiben hinter Stacheldraht

■ Was macht das Besondere der „Lagerliteratur“ aus? Gabriele Mittag berichtet über Texte, die ab 1940 im französischen Internierungslager Gurs entstanden sind

Die Beschäftigung mit der Geschichte der französischen Internierungslager während der Zeit des Vichy-Regimes hat auch in Frankreich selbst erst in jüngster Zeit eingesetzt. Die Tatsache, daß diese Lager, ohne mit den deutschen Konzentrationslagern vergleichbar zu sein, spätestens seit Beginn der Deportation aus Frankreich im Jahr 1942 zum integralen Bestandteil eines von den Pyrenäen bis nach Auschwitz reichenden nationalsozialistischen Lager- und Vernichtungssystems wurden, ist immer noch nicht zureichend bekannt.

Um so bemerkenswerter ist es, daß nunmehr eine deutschsprachige Untersuchung über das südfranzösische Lager Gurs vorliegt. Sie lenkt das Augenmerk auf eine unter den Ausnahmebedingungen der Lagerhaft entstandene Literatur und Kunst, von deren Existenz kaum jemand etwas wußte. Die Autorin Gabriele Mittag hat jahrelange Recherchen zur Sicherung von historischem Quellenmaterial und verschollen geglaubten literarischen Texten angestellt, Biographien rekonstruiert und Zeitzeugen befragt. Ihr Buch lebt ganz und gar von dieser Spurensuche und von der Gewißheit, daß – wie sie selbst als Prämisse formuliert – „die Bedeutung dieser Lagerliteratur und -kunst weniger in ihrer ästhetischen Qualität, sondern in ihrem dokumentarischen Charakter“ liegt.

Anhand von Briefen, Gedichten und Tagebüchern aus Gurs untersucht Mittag die besondere Funktion des „Schreibens hinter Stacheldraht“. Ihr besonderes Interesse gilt den im Lager aufgeführten politischen Kabarettprogrammen und drei „zwischen Fiktion und Zeitzeugenschaft“ angesiedelten Gurs-Romanen. Anders als die frühere Exilforschung, die Texte prominenter Schriftsteller in den Mittelpunkt rückte, wendet sich die Autorin der Gebrauchsliteratur, den Texten des „Alltags“ und „Überlebens“ im Lager Gurs zu. Auch die von ihr vorgestellten Romane besitzen keinen hohen literarischen Standard. Um so mehr müssen diese Zeugnisse als einzigartige Dokumente gelesen werden, die die Ängste und Hoffnungen der Internierten zur Sprache bringen und uns mehr über die sozialen Beziehungen, Kommunikationsformen und Konflikte innerhalb der Zwangsgemeinschaft des Lagers sagen als andere Quellen.

Gabriele Mittag geht insbesondere immer wieder der Thematisierung des Geschlechterverhältnisses im Lager nach, und sie macht dabei zugleich die Besonderheit der Flucht- und Exilsituation von Frauen, zumal von Schriftstellerinnen, deutlich. Ein ebenfalls in vielen Texten und Dokumenten wiederkehrendes Thema ist der Gegensatz zwischen den internierten „politischen“ Emigranten und Flüchtlingen der Jahre nach 1933 und den jüdischen Männern, Frauen und Kindern, die Ende 1940 aus Deutschland deportiert und nach Gurs geschafft worden waren. Das Spannungsverhältnis zwischen einer beanspruchten Identität als „Deutscher“ und einer teils zugeschriebenen, teils bewußt gewählten „jüdischen Identität“, in dem sich viele Juden in Deutschland befunden hatten, setzte sich im Lager als Gruppengegensatz fort. Ein ideologisches Angebot, in dem solche Differenzen aufgehoben schienen, bot der Antifaschismus. Aber dazu nimmt die Autorin selbst eine eher kritische Haltung ein.

Was mich bei der Lektüre des vorliegenden Buches, in dem ganz überwiegend literarische Texte von Emigranten untersucht werden, am meisten wunderte, ist das Fehlen einer Reflexion von Sprachproblemen. An einer Stelle wird die Sprache, und zwar die deutsche Sprache, als „einzige Heimat“ bezeichnet, die den Flüchtlingen geblieben war. Gab es aber nicht deutschsprachige Autorinnen und Autoren, die sich der Sprache des Dritten Reiches nicht mehr ungebrochen bedienen wollten, die in der Sprache des Exillandes zu schreiben begannen oder die gar das Hebräische wählten?

Ein Buch zu einem wichtigen Thema muß nicht unbedingt ein „theoretisches“ Konzept haben. Dennoch fehlt ein Leitfaden, zumal die „Literatur aus Gurs“ ebensowenig wie andere Dokumente aus Internierungs- und Konzentrationslagern heute noch „für sich“ gelesen werden können. Die Autorin wendet sich gegen einen allzu engen Kultur- und Literaturbegriff, der den von ihr gesammelten Texten nicht gerecht werden kann. Aber jenseits dessen beginnen doch erst die Fragen.

Gabriele Mittag spricht von Texten des „Überlebens“, von der Funktion der „Selbstbehauptung“ und „Selbstvergewisserung“ beim Schreiben. Liegt schon darin das Besondere der „Lagerliteratur“? Oder geht es um eine Inhaltsanalyse von Textdokumenten, die in einem Internierungslager entstanden sind und die unsere historischen Kenntnisse über solche Lager erweitern? Soll der „Alltag“ in Gurs – woher nur stammen nur diese furchtbaren Begriffe von „Alltag“ und „Lagerkultur“? – anhand von Briefen, Tagebüchern und Chansons rekonstruiert werden? Oder soll die Geschlechterproblematik als Schlüssel dienen?

Doch vielleicht sind das unbillige Einwände gegenüber einem engagierten Unternehmen, das vor allem der „Spurensicherung“ und der Erinnerung dienen will. Am Schluß ihres Buches formuliert Gabriele Mittag sehr eindrücklich: „Wie gering auch immer die Wirkung dieser Lagerliteratur auf heutige Leserinnen und Leser sein mag – sie ist Teil der deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte und darf als solche nicht aus dem Gedächtnis gelöscht werden.“ Ahlrich Meyer

Gabriele Mittag: „Es gibt Verdammte nur in Gurs. Literatur, Kultur und Alltag in einem südfranzösischen Internierungslager. 1940–42“. Attempto-Verlag, Tübingen 1996. 321 S., 28 Abb., 68 DM