Streng geheim: „...unter die Haut kriechen“

Mindestens sechs Prozent aller Informellen Mitarbeiter waren unter 18 Jahre alt. In einem neuen Buch steht, wie es der Staatssicherheit gelang, die Jugendlichen zu mißbrauchen, und welche Folgen dies für den einzelnen hatte  ■ Von Udo Scheer

Bewußtsein, Freundschaft, Schöpfertum, mutig und kühn, so wünschte sich die SED-Führung ihre Staatsjugend. Und sie ließ sie marschieren, voran ins Marxsche Morgenland hin zum Horizont der kommunistischen Verheißungen, in Blauhemden, mit wehenden Fahnen und lachenden Gesichtern. Hinter vorgehaltener Hand wurde schon mal gewitzelt: Was haben der Kommunismus und der Horizont gemeinsam? – Je mehr du dich ihnen näherst, um so weiter entfernen sie sich von dir.

Für solch kesse Sprüche allein ging unter Erich Honecker wahrscheinlich keiner mehr ins Gefängnis. Aber wachsam sein, beobachten, wissen, was gedacht wurde, und „entsprechende Maßnahmen durchführen“ – das war Sprache und Maxime der SED-Funktionäre wie der Gedankenpolizei.

Wo sich junge Menschen auffällig der Kontrolle durch Erzieher und FDJ entzogen, trat das Ministerium für Staatssicherheit auf den Plan. Es nutzte Jugendliche als IMs in kirchlichen Jugendgruppen, Friedens- und Umweltkreisen, Punk- und Skinhead-Szenen. Und es benutzte sie als Werkzeuge zur Spaltung von Freundeskreisen.

Diesem düsteren Kapitel der DDR-Geschichte widmete sich im Februar 1996 ein Kongreß in Berlin, der in Schwerin, Erfurt und Gera weitergeführt wurde. Unter dem Titel „Beschädigte Seelen DDR-Jugend und Staatssicherheit“ dokumentiert jetzt eine 350seitige Veröffentlichung den Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen durch das MfS, dessen Methoden, Ziele und die Folgen. Die in 24 Beiträgen erstmals publizierten Fakten und Aktenauszüge stellen ein ungeheuerliches Zeugnis dar.

Mit seiner Nachwuchsarbeit – 1989 gab es nahezu 100.000 hauptamtliche Mitarbeiter – begann das MfS in den siebenten Klassen. Dazu griff man auf die Listen zurück, auf denen die Klassenlehrer über ihre Schuldirektoren geeignete Kandidaten für eine militärische Laufbahn an das Wehrkreiskommando zu melden hatten. Vertrauliche Werbegespräche folgten nach gründlichem Durchleuchten der Familien in der Klassenstufe neun. Das MfS stellte Studienplätze in Aussicht und hielt die „auf der Basis der Überzeugung“ Geworbenen mit Berichten, häufig über Mitschüler und Lehrer, an seiner Leine.

Für das „Eindringen in negative Kreise“ setzten die Führungsoffiziere vorzugsweise auf Heimkinder und Kinder aus zerrütteten Elternhäusern. Sie schlichen sich in das Vertrauen der jungen Menschen, kehrten den väterlichen Freund heraus. Fielen die Informationen nicht zufriedenstellend aus, praktizierten sie auch das „Herausbrechen“ aus der Gruppe und erpreßten die Zusammenarbeit nicht selten als „Wiedergutmachung“ für begangene Delikte.

Jürgen Fuchs vollzieht in seinem Beitrag ein besonders teuflisches Werbeprinzip nach: „Die Staatssicherheit zersetzt deine Eltern, weil sie Feinde des Sozialismus sind... Vertraue dich uns an, sonst könnten die Gesetze des Staates dich treffen... Sogar ein Heimplatz ist schon reserviert, wenn deine Eltern ins Gefängnis kommen... Wir verbreiten das Gerücht, daß deine Mutter ein Spitzel ist... Oder wir behaupten, daß dein Vater kleine Mädchen verführt... Die ganze Verantwortung ... tragen deine Eltern oder die, die deine Eltern verführt haben. Der Klassenfeind im Westen. Vielleicht kannst du mithelfen, daß wir deine Eltern zurückgewinnen... Ansonsten wirst du wahrscheinlich kein Abitur machen können.“

Nicht verbürgt ist, ob diese Einschüchterungen wortwörtlich so praktiziert wurden. Aber sie finden sich als Handlungsanweisung in „Maßnahmeplänen“, vornehmlich gegen Eltern, die Dissidenten oder Ausreiseantragsteller waren. So aufschlußreich und beklemmend die Beiträge der neunzehn Wissenschaftler und Publizisten sind, bleibt es doch das Problem eines Sammelbandes, daß herausgearbeitete Erkenntnisse in mehreren Beiträgen wiederholt werden. Da gibt Jörn Mothes einen informativen Überblick über Gewinnung, Motive und Einsatz von Jugend-IMs, Heike Flender nimmt sich der gleichen Thematik unter psychologischen Gesichtspunkten an, und schließlich finden sich die Fakten noch einmal bei Karl-Rudi Pahnke und Jörn Mothes unter dem Stichwort MfS-Nachwuchsarbeit.

Sechs bis zehn Prozent der insgesamt 174.000 Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS wurden im Jugendalter geworben. Dabei gab es bis 1968 immer wieder interne Diskussionen, ob man Jugendliche unter 18 Jahren verpflichten solle oder „nur“ als „Kontaktperson“ (KP) führen. Mehrere, auch durch Aktenauszüge ergänzte Fallbeispiele über die Verführung Jugendlicher und die seelischen Folgen sprechen für sich.

Ein kommentierter Zeitzeugenbericht – durchaus für Unterrichtszwecke geeignet – ist dem Buch als CD beigegeben. Diese Fälle machen die Skrupellosigkeit und Perversion besonders deutlich, mit der junge Menschen auf der Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft mißbraucht wurden.

Fallbeispiel „Bärbel“: Ihr Führungsoffizier nutzt die Republikflucht ihrer Schwester, um von der 16jährigen Berichte über die Junge Gemeinde und deren Pfarrer zu erpressen. Erst nach der Geburt ihrer Tochter und dem völligen Rückzug aus der JG läßt man von ihr ab. Sich zu offenbaren gelingt ihr erst nach der Wende.

Fallbeispiel „Manfred“: Durch das Interesse des MfS an seiner Person empfindet sich der 17jährige „herausgehoben“. Er wird zum Auslandsstudium delegiert, wirbt westliche Studenten an, fühlt sich dabei wie „Agent 007“ und zugleich wie ferngesteuert, wird mit Verfolgungszuständen in die Psychiatrie eingewiesen und vom MfS fallengelassen. Heute lebt er zurückgezogen, leidet unter Phobien, Beziehungsstörungen und flüchtet sich in selbstzerstörerische Exzesse.

Die Steigerung: In mehreren Arbeiten versuchen Stasi-Diplomaten, dem Jugendmißbrauch einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben. Einer der Verfasser schreckte nicht davor zurück, Kinder- und Jugend-IMs langfristig zu Bausoldaten aufbauen zu wollen, um besser in diesen abgeschotteten Bereich einzudringen. Dabei fand er sich ganz auf der Linie mit Minister Mielke. Denn er hatte gefordert, jugendliche IMs so zu „erziehen und befähigen“, daß sie „operativ bedeutsamen Personen ... unter die Haut kriechen und ins Herz blicken“.

Angesichts eines derart schockierenden Mißbrauchs junger Menschen sind die in den Band aufgenommenen Exkurse in die sozialistische Erziehung äußerst aufschlußreich. Ein Rückblick bewertet das von Makarenko entwickelte Modell zur Kollektiverziehung als Unterdrückung jeder Individualität. Dieses sowjetische Erbe aus den zwanziger Jahren, so weisen weitere Beiträge nach, wirkte von der Erziehung in den Kinderkrippen bis zum geschlossenen Justizvollzug im Jugendwerkhof Torgau fort. Heute ist dieses Gefängnis ein Museum.

„Beschädigte Seelen“ ist ein unbequemes Buch. Es zeigt eine extreme Seite der DDR-Normalität, und es sollte Anstoß sein für weitere Auseinandersetzungen mit der sozialistischen Schuld und deren Nachwirkungen für Betroffene. Die meisten von ihnen schweigen noch immer.

J. Mothes, G. Fienbork, K.-R. Pahnke, R. Ellmenreich, M. Stognienko (Hrsg.): „Beschädigte Seelen, DDR-Jugend und Staatssicherheit“; Edition Temmen, Bremen 1996, 350 Seiten, mit 136 Dokumenten und einer Audi-CD; 39,90 DM