■ In Frankreich opponieren Intellektuelle gegen das undemokratische Markteuropa. Und in Deutschland?
: Das Schweigen der Linken

Von Avantgarde kann schon seit langem nicht mehr gesprochen werden: Seit mindestens zehn Jahren ist die intellektuelle Linke in Europa nicht mehr auf dem Posten. Ihr allererster Posten aber kann nur „Europa“ heißen. Nun erwachen vor allem in Frankreich die Schläfer. Sie erwachen zu spät, und verwirrt ist daher meist ihr Reden.

Mit der Verabschiedung der von Jacques Delors genial inszenierten Einheitlichen Europäischen Akte wurde vorgezeichent, daß Europa nicht viel mehr als ein Marktraum zu sein habe, der in seiner Vollendung von der gemeinsamen Währung zusammengebunden werden müsse. In Maastricht wurde es dann besiegelt: Es soll wie seit 40 Jahren beim Europa der Exekutiven bleiben, dessen Fertigstellung nicht der Nationen und ihrer Entscheidung in einer gemeinsamen volonté génerale bedürfe. Was sich von nun an Union nennen dürfe, solle kein selbstbestimmtes politisches Subjekt sein. Für dieses Gebilde ohne Verfassung, also ohne Grenzen und politische Gestalt, solle niemand die Verantwortung tragen müssen. Was den Nationen an politischer Selbstbestimmung bliebe, sei im Markt aufzulösen oder seiner Aufsichtsbehörde auszuliefern. Der Publizist Rüdiger Altmann brachte das schon 1989 auf die bündige Formel: „Die vollendete EG, die Marktgemeinschaft, braucht keine politischen Institutionen mehr.“

Mit anderen Worten: Die politische Form der Demokratie wird überflüssig, wenn der Markt gelingt. Das mußte, da hiermit der Markt zum Schicksal der Nationen wurde, auch für die politische Verfassung der Staaten gelten. Der intellektuellen Linken Deutschlands, die sich gerade in der Wiedervereinigungsdebatte um Nation oder Nichtnation erschöpfte, fiel die Ungeheuerlichkeit dieses marktautoritären Programms damals und auch später nicht auf.

Altmann hatte nur ausgesprochen, was seit Jahrzehnten die Praxis des Europas der 50.000, des Europas der Technokraten und Experten war – und von allen Regierungen (mit der halben Ausnahme Großbritanniens) mitbetrieben wurde. Sie wollen noch heute Europa nur durch bürokratische Integration und Rechtsharmonisierung vollenden, nicht durch eine politische Entscheidung der Europäer. Nur durfte das niemand deutlich sagen. Überall drückten sich die politischen Klassen opportunistisch davor, diese Frage zu stellen, die ja ihre eigene Existenzfrage ist.

Erst kurz vor und nach Maastricht sorgten sich Leitartikler, Staatsjuristen und einzelne Politiker um das sogenannte Demokratiedefizit, freilich folgenlos. Stärkere Zweifel löste erst das von Mitterand leichtfertig befohlene Europaplebiszit der Franzosen im September 1992 aus, das um ein Haar schiefgegangen wäre. Damit war immerhin eine Intellektuellendiskussion ausgelöst, die zu scharfsinnigen Analysen über den Zustand Europas und die Zukunft der Republik führten. Ähnliches findet man heute, ausgerechnet, nur in England, kaum in Deutschland.

Hierzulande nimmt man nur verständnislos die aufgeregten Stimmen wahr, die plötzlich über den Rhein dringen und offenbar auch die Deutschen ansprechen wollen. Allenfalls gallisch-nationalistische Töne verstand man – auch in der taz –, als in der vergangenen Woche der Bürgermeister von Belfort, Jean-Pierre Chevènement, zu einer Volksabstimmung über den Euro aufrief und dabei Unterstützung durch ernstzunehmende Intellektuelle fand.

Ein Plebiszit über die Währungsunion, das neben Chevènements kleiner linkssozialistischer Bewegung auch die Kommunisten und die rechtsradikale Front National fordern, muß die politische Klasse fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Es ginge heute wohl nicht nur gegen Euro, Stabilitätspakt und Maastricht aus. Bereits im Vorfeld würden sich auch Rechte wie Linke zerstreiten und spalten. Die schlimmste Krise der V. Republik seit 1968 bräche endlich aus – sie umlauert das Land seit den letzten Mitterrand-Jahren. Und sie kann nicht mehr lange, wie viele glauben, durch die unter dem Chirac-Regime hilflos rudernden politischen Institutionen aufgehalten werden.

In dieser Krise geht es um den Fortbestand der nationalen Republik unter den Deregulierungsangeboten des allmächtigen Markts, um die Möglichkeit einer politischen Gesellschaft, um Geist und Inhalt einer demokratischen Verfassung. Das versuchte in der letzten Woche Pierre Bourdieu im Spiegel-Interview den nicht begreifenden Journalisten klarzumachen.

Der wilhelminisch auftrumpfende Euro-Imperialismus, mit dem die Tietmeyers, Waigels und Stoibers die Europäer überrennen, nimmt von der französischen Malaise keine Notiz. Und wundert sich, daß die Deutschen nun stellvertretend für das Europa der Exekutiven in den Brennpunkt des Aufbegehrens gegen die schonungslose Globalisierung geraten. Der Adressat des Aufbegehrens ist zuerst einmal das monetaristisch gesteuerte Markteuropa, das zwanghaft die Deregulierung der nationalen Demokratien und ihrer Institutionen betreibt.

Die Mehrheit der französischen Intellektuellen will sich nicht in den antieuropäischen Sog des trikoloreschwingenden Linksnationalisten Chevènement hineinziehen lassen. Weder möchte sie Europa sabotieren noch den antideutschen Ressentiments, die an den immer breiteren Rändern der Verelendung wurzeln, Nahrung geben. Und die meisten fürchten angesichts der heraufziehenden Staatskrise auch eine unheilige Koalition zwischen den linken und den rechten Extremen, die sich am Markteuropa festbeißt.

Alle aber, Militante wie Moderate, sind fassungslos und befremdet von der deutschen Dickfelligkeit, die nicht begreifen kann, daß es mit der Währung um Nation und Demokatie, um das Fortleben von Gesellschaft geht. Nicht von ungefähr setzt die französische Intelligenz, fast verzweifelt, auf den deutschen Kanzler in all seiner bochigen Masse. Von ihm darf sie, nicht zu Unrecht, vermuten, daß er die sozialen und ideellen Beweggründe für die Europamißstimmung der Franzosen wenigstens ahnt – sei es auch nur aus Machtinstinkt. Immerhin kannte er Mitterand lange und weiß, was er vom Leichtgewicht Chirac zu halten hat. Die intellektuelle Linke in Deutschland bleibt in den Konflikten um Europa weiterhin abwesend. In ihr gibt es dazu keine Meinung und keine Stimme. Weil ihr der Zustand des Europas der 50.000, des Europas ohne politische Verfassung, egal ist, macht sie sich zwangsläufig zum Bündnispartner der Tietmeyer & Co. Claus Koch