Die Lebendware als Termingeschäft

Sich selbst schlachtende Schweine, Hochhäuser ohne Grundmauern: Der italienische Journalist und Soziologe Marco d'Eramo beschreibt die Entwicklung der Welt- und Geldstadt Chicago als Geschichte der europäischen Zukunft  ■ Von Marie Luise Knott

Chicago – was ist das für eine Stadt, die den „Chicago Boys“ ihren Namen gab: jener Wirtschaftsschule, die den eisernen Besen des Internationalen Währungsfonds (IWF) band, den Keynesianismus vom Markt verdrängte, auch im Osten keinen (sozialen) Stein auf dem anderen läßt und sich längst die ganze Welt als ihr Dorf imaginiert? Woher kommen diese Geldtheoretiker, die im ausgehenden 20. Jahrhundert noch einmal verkünden, daß nur das freie Spiel der kapitalistischen Marktmechanismen und die Privatinitiative eine gesunde Wirtschaft hervorbringe – vorausgesetzt allerdings, daß der Markt auch wirklich ein völlig freier, will sagen: von allen sozialen Bindungen befreiter, sei.

Schon in Brechts Theaterstück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ waren Chicago und die dortige Schweineschlachtung das Sinnbild des Kapitalismus in Reinformat; alle menschlichen Beziehungen waren hier (wenngleich für den einzelnen unmerklich) dem gewissenlosen Fleischkönig Pierpont Mauler in die Hände gefallen, der über einen besonderen Draht zur Wallstreet verfügte und sich noch sein eigenes (vorgetäuschtes?) Mitleid mit der Armut kapitalistisch zunutze machte.

60 Jahre später nun untersucht der italienische Soziologe und Journalist Marco d'Eramo in der umfangreichen Studie „Das Schwein und der Wolkenkratzer“ die Geschichte der Stadt von ihren Anfängen bis in die Gegenwart, wobei das Schwein für den Aufstieg zur Weltstadt, der Wolkenkratzer für die Konsolidierung steht. Chicago ist eine junge Stadt, keine 160 Jahre alt. 1850 war es noch ein 200-Seelen-Dorf, doch schon um die Jahrhundertwende hatte sich der Flecken zu einem riesigen Güterumschlagplatz gemausert: Am westlichen Rande der Seenplatte am Michigansee gelegen, wurde die Stadt zu einem Handelsknotenpunkt, an dem Schiffahrt und Eisenbahnverkehr aufeinandertrafen. Zudem war sie ein Meilenstein bei der Eroberung und Ausbeutung des Westens. Heute ist Chicago eines der größten Börsenzentren für Termingeschäfte und nach wie vor einer der größten Binnenhäfen der Welt.

Zentrales Handelsgut war und ist das Schwein, das dem Buch den Titel gab. Zunächst wurden die Schweine, die von privaten Transportunternehmen (Eisenbahnlinien und Schiffsverkehr) aus den Weiten des Landes herantransportiert wurden, hier lebend umgeschlagen (das Schwein als „die kompakteste und billigste Form der Maisverschickung“). Marco d'Eramo berichtet eindringlich, wie die Stadt im Zuge einer zunehmenden „Verwissenschaftlichung“ des Schweinetransports rapide an Bedeutung gewann. Auf den Lebendwarenumschlag folgte die Zeit, in der die Tiere hier geschlachtet und verwurstet wurden (sogar für das Knochenmehl fand man Verwendung). Der nächste Schritt der Rationalisierung war die disassembly- line, das „Zerlegungsband“, bei dem die Tiere sich von oben herabstürzend nahezu selber schlachten und zerteilen, was in seiner sterilen Grausamkeit schon Brechts Fleischfabrikanten faszinierte.

Mit der Entdeckung des Eiswaggons – das Eis nahm man im Winter aus dem zugefrorenen See – konnte man später die Schweine unverwurstet weitertransportieren. Doch je sekundärer damit die günstigen Standortbedingungen der Stadt wurden, desto mehr drohte der Niedergang. Heute werden die (noch ungeborenen) Schweine im Warentermingeschäft als Schweinehälften in Form von futures umgeschlagen, preislich kategorisiert nicht etwa nach Geschmack oder Qualität, sondern nach Gewicht und Fleischfarbe. Alles aber, was nicht kategorisch erfaßt ist, tendiert immanent dazu, zu verschwinden.

Niemanden wundert, daß die wichtigsten Repräsentationsfiguren der Stadtgeschichte Wurstfabrikanten sind. Sie sorgten für die kulturelle Infrastruktur (etwa Büchereien), nach ihnen sind die Straßen benannt, und in dem von ihnen gegründeten städtischen Kunstmuseum hängen die Werke nach Mäzenen, nicht nach Künstlern oder Epochen geordnet. Chicago (wie die ganzen USA) zerfällt – in Reiche, für die es alles gibt, und in Arme, für die es immer weniger gibt; in Ethnien, die sich nach Postleitzahlen zusammenballen.

Die Gangs, deren Entwicklung und Funktionsweise der Autor beschreibt, seien in der amerikanischen Gesellschaft wichtige Grundpfeiler der sozialen Ordnung und gleichzeitig kapitalistische Vermittlungsinstanzen. Im Innern dieser über Jahrzehnte gewachsenen gesellschaftlichen Bindungselemente reproduziere sich stets aufs neue der Traum des Kapitalismus: daß man es nämlich durch Kraft und Eigeninitiative zu etwas bringen kann. Die Gang wäre somit die Underdog-Schule der amerikanischen Nation, deren Kultur sich längst in die etablierte Politik und Ökonomie hineingefressen hat.

Was aber hat das Ganze mit den Chicago Boys zu tun? Marco d'Eramo zufolge fand das Kapital in dieser Stadt ideale Bedingungen zur freien Entfaltung vor: eine Freiheit etwa von den gesellschaftlichen Hemmnissen Europas wie dem französischen „Nationalstaat“ oder dem preußischen Militär. Nach einem großen Brand im Jahr 1871 wurde (unter Anleihe bei europäischen Bahnhofsbauten) in Chicago eine neue Bauweise entwickelt, die als „Chicagoer Schule“ in die Geschichte einging: Es entstanden Hochhäuser, die sich der dicken, tragenden Grundmauern entledigt hatten und nur noch von einem Stahlskelett im Innern zusammengehalten wurden – Triumph des Willens im Industriezeitalter?

Privatinitiative und Privateigentum, jenes Glaubensbekenntnis der Chicago Boys, beherrsche die gesamte Entwicklung, so Marco d'Eramos Fazit. Noch bis Ende des letzten Jahrhunderts habe es keine gesellschaftlich vereinbarte Zeit gegeben, sondern jede (private) Eisenbahngesellschaft organisierte ihren Fahrplan nach einer eigenen Zeitfestlegung. Die Erfindung der Tram als öffentliches Transportmittel habe den Menschen das Leben in privaten Eigenheimen der Suburbs ermöglicht, und mit dem Siegeszug des (privaten) Transportmittels Auto habe das Stadtzentrum seine öffentliche Begegnungsfunktion eingebüßt. Heute spiele sich das Leben nahezu gänzlich in den Suburbs ab, aus denen jede Öffentlichkeit verschwunden sei, jeder Fremde nur als Eindringling wahrgenommen werde. Auch tendiere der Demokratiebegriff dazu, sich zu verwandeln, „so weit, bis er gleichbedeutend wird mit der Versammlung der Eigenheimbesitzer“.

D'Eramos Studie ist im ersten Teil ein mitreißender Ritt durch die Entwicklung der Stadt, anschaulich, materialreich und ohne Wissenschaftshuberei (wobei die eine oder andere Quellenangabe nicht geschadet hätte). Wenn der Autor beschreibt, wie man heutzutage etwa mit Berechtigungsscheinen zur Umweltverschmutzung in Chicago Handel treibt, werden Vorahnungen der europäischen Zukunft geweckt. Nachdem sich die Studie im Mittelteil allzu sehr im Allgemeinen verliert, wird einem die Stadt wieder lebendig vor Augen geführt, wenn der Autor sich am Ende mit Gangstrukturen beschäftigt. Bilder und Stadtpläne zur Visualisierung des Geschriebenen hätten die Lektüre bereichert.

Marco d'Eramo: „Das Schwein und der Wolkenkratzer. Chicago, eine Geschichte unserer Zukunft“. Antje Kunstmann Verlag, 1996, 480 Seiten, 48 DM