„Und der Typ hat bloß gelacht“

Ein Memminger Student, der schon einmal verurteilt worden ist, hat erneut Jungen aus dem Ort mißbraucht. Und wurde wieder erwischt. Außerdem war er Kinderporno-Händler im Internet  ■ Von Klaus Wittmann

Es ist über Nacht

im Memminger Ortsteil Amendingen etwas wieder aufgebrochen, was gerade ein wenig vernarbt schien. Ein 24jähriger Student, der bereits vor zweieinhalb Jahren wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in sechs Fällen verurteilt wurde und dessen Bewährungszeit noch nicht abgelaufen ist, wurde erneut straffällig. Wieder hat er, diesmal in einem Nachbarort, Jungen sexuell mißbraucht. Und wieder wurde er erwischt.

Marco geht langsam auf dieses verfluchte Verkehrsschild zu.

Verkehrsberuhigter Bereich. Gegenüber die Schule von Amendingen. Eine gute Wohngegend. „An dieses Schild hat er mich gekettet, an den Armen und am Hals. Mit Fahrradschlössern.“ Marco stellt sich vor das Schild. „So wie gekreuzigt stand ich da, konnte mich nicht wehren. Der konnte ja Judo, und er hat uns auch immer wieder geschlagen.“

Dreizehn Jahre war Marco, als das passierte. „Als er mich gefesselt hatte, hat er mir die Hose runtergezogen, am hellichten Tag. Dann kamen die Kinder aus der Schule, und alle haben mich ausgelacht.“ Die Autos seien vorbeigefahren, keiner habe geholfen.

„Und der Typ hat bloß gelacht,

hat sich daran aufgegeilt. Also, ich hab' mich geschämt, das kann ich gar nicht sagen.“ Jene Autofahrer müssen – überwiegend zumindest – Leute aus dem Ortsteil gewesen sein.

Hin und wieder denkt der heute 16jährige noch heute darüber nach, wer da wohl alles an ihm vorbeigefahren ist, ohne zu helfen. Lange hätten sie ihn immer wieder ausgelacht. „Das ist doch der Nackte vom Verkehrsschild!“

Beim Fußballspielen nebenan auf dem Sportplatz habe es angefangen, erzählt Marco zu Hause. Vier Jahre ist das her. Die Jungen hatten Respekt vor dem Studenten. Keine Gelegenheit ließ der Mann aus, ihnen zu sagen, daß er

im Judo voll gut drauf

sei. Das machte Eindruck. Beim Rumtoben wurde es dann grob. „Er kniete auf unseren Armen, so daß wir uns nicht wehren konnten. Dann hat er uns geschlagen, hat gesagt, das nächste Mal gehen wir eine Etage tiefer.“

Krieg und Frieden hieß das Spiel, das im Genitalbereich endete. „Es hat furchtbar weh getan, wenn er uns so kräftig gepackt hat.“ Marco erzählt von seinem Freund, der mitgegangen sei in die Wohnung des Täters. „Der hat dann alle Türen abgesperrt, hat ihn auf einen Stuhl gefesselt, die Hose ausgezogen, ihn fotografiert.“ An der Stelle erzählt Marco nicht weiter. Sein Freund kommt hinzu. Doch der möchte zu all dem nichts sagen.

Nun ist es also wieder passiert,

nicht in Amendingen, wie damals, sondern im benachbarten Memmingerberg. Schüler der dritten bis achten Klasse, ausschließlich Jungen, waren die Opfer. Einer von ihnen vertraute sich vor kurzem seinem Lehrer an. Die Polizei wurde informiert, der Student verhaftet. Zwei Wochen nach der Festnahme legte er ein Geständnis ab. Acht Fälle sexuellen Mißbrauchs an mindestens vier Schülern hat er bislang zugegeben, weitere werden vermutet. Peinlich genau

soll er darüber Buch geführt haben,

doch das will der Staatsanwalt nicht bestätigen.

Einige Eltern werfen dem Rektor der Memmingerberger Schule vor, er hätte erst vier Wochen nachdem ihm die Vorfälle bekannt wurden, den Elternbeirat verständigt. Der Schulleiter kontert, der Elternbeirat sei bei der nächsten anstehenden Sitzung informiert worden. Außerdem sei das alles außerhalb der Schule passiert, was auch der Staatsanwalt bestätigt.

Es ist immer außerhalb der Schule passiert. Im Freien – oder in der Wohnung des 24jährigen. Bei der letzten Elternbeiratssitzung war weniger von den mißbrauchten Schülern die Rede als vielmehr davon,

ob das alles nicht dem Ruf der Schule

oder des Ortes schaden würde. Von den Vorgängen in Amendingen wußten sie in Memmingerberg nichts. Obwohl die beiden Orte nicht einmal zwei Kilometer voneinander entfernt sind.

Hätte nicht Marcos Mutter in einer Rundfunksendung gehört, daß Eltern aus Memmingerberg nach der Sitzung in der Schule bemängelten, viel zu spät über die Vorfälle informiert worden zu sein, es wäre kaum jemandem aufgefallen, daß der gleiche Täter erneut straffällig geworden ist. Marcos Mutter weiß überdies, daß der Student außerdem der Mann ist, der im vergangenen Jahr als Kinderporno-Versender Schlagzeilen gemacht hat.

Über den Netzknoten der Universität Ulm

hatte der Informatikstudent im Internet Kinderpornos empfangen und verschickt. „Interpol“ entdeckte ihn 1995. Professor Hans Peter Großmann, der Leiter des Rechenzentrums, konnte es nicht fassen. Plötzlich standen die Kripobeamten im Uni-Rechenzentrum. In einem englischen Computer waren die Ermittler im Zusammenhang mit einer Fahndung nach einer Kinderporno-Bande auf die E-Mail-Adresse des Pädophilen aus Amendingen gestoßen.

Im Terminalraum der Ulmer Uni, zu dem der Informatikstudent freien Zugang hatte, hatte er kinderpornographisches Material abgerufen und es auf Disketten geladen. „Für eigene Zwecke und wahrscheinlich auch zur Weitergabe“, sagt der Professor.

Das Material kam aus den USA,

die Adresse, von der aus die Kinderpornos abgerufen wurden, war eine englische. Die

Lieferanten wiederum kamen aus Österreich, Deutschland, der Schweiz und Australien.

Der Student wurde dann „in Übereinstimmung mit der Polizei etwa zwei Wochen lang beobachtet“, berichtet Professor Großmann: „Seine Aktivitäten sind elektronisch protokolliert worden.“ Die Überwachung ließ keinen Zweifel, der Informatikstudent war tatsächlich im Internet in Sachen Kinderpornographie aktiv. Die Polizei durchsuchte daraufhin seine Wohnung in Amendingen und konnte fünftausend Kinderpornos sicherstellen. Der Student wird einem weltweiten Pädophilen-Netz zugerechnet.

Ermittelt wird in

Deutschland,

England und den USA, in den Niederlanden, in Hongkong und auf Jamaika.

Die Studenten, so Großmann, hätten kostenlosen Zugang zu den Datenübertragungsterminals an der Uni. Jeder von ihnen müsse versichern, sie nicht zu mißbrauchen. Aber Kontrolle sei kaum möglich. Einige Wochen nach der Durchsuchung sei dieser Student wieder zu ihm gekommen, erinnert sich Großmann:

„Der stand hier in meinem Büro

und sagte, er müsse für sein Studium wieder diesen Netzzugang haben.“ Gerade so, als sei nichts gewesen.

Natürlich sei ihm das verweigert worden. Und der junge Mann sei auch nicht mehr Student an der Universität Ulm. Einen Moment lang überlegt der Wissenschaftler, was er antworten soll auf die Frage, ob er diesem Studenten das alles zugetraut habe. „Nein, ich muß sagen, er ist ein

völlig unauffälliger Mensch.“

Wegen seiner Internet-Aktivitäten ermittelt die Ulmer Staatsanwaltschaft gegen den Studenten, in Memmingen geht es um die Mißbrauchsfälle. Eine enge Zusammenarbeit beider Staatsanwaltschaften gibt es bisher nicht, die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Die Vorgänge um die Kinderpornos im Internet dürften deshalb zunächst nur im Zusammenhang mit der gutachterlichen Beurteilung des Täters von Bedeutung sein. „Wir haben die Akten aus Ulm angefordert“, sagt der Chef der Memminger Staatsanwaltschaft, Peter Stoeckle.

Bei Marcos Eltern, in Amendingen, sitzt der Schock tief, brechen die vernarbten Wunden wieder auf. Daheim am Wohnzimmertisch sitzen Marcos Eltern mit den Nachbarn zusammen, den Eltern seines Freundes.

Die Erwachsenen machen sich Gedanken,

ob und wie sie das alles hätten vermeiden können. „Die Buben haben ja nicht groß was gesagt“, meint die Mutter von Marcos Freund. „Aber ich hätte vielleicht auch nachfragen sollen, ich habe mir wahrscheinlich auch zu wenig gedacht, wenn dieser junge Mann wieder aufgetaucht ist. Ich weiß ja heute noch viel zuwenig Bescheid. Unser Sohn will auch gar nicht viel davon wissen.

Er sagt immer, laß mich in Ruhe,

das ist vorbei.“

Man tue sich schon schwer, mit den Kindern zu reden, pflichtet ihr Marcos Vater bei – gerade in der Pubertät. Zum Glück habe Marco dann doch daheim erzählt, was alles vorgefallen sei. Das war an jenem Abend, an dem er völlig verstört heimgekommen sei, mit diesem großen Bluterguß. „Er sagte, der hat mich wieder geschlagen. Wir wußten sofort, wer gemeint war.“ Marcos Mutter rief sofort die Polizei an. Es kam zum Prozeß. Vor zweieinhalb Jahren war das. Nichtöffentliche Sitzung. Im Mai 1994 wurde das Urteil gesprochen. Zwei Jahre auf Bewährung, 50 Tage Arbeit in einer gemeinnützigen Einrichtung und eine Therapie.

„Ich kann nur sagen, es war gut, daß ich's erzählt habe“, sagt Marco heute.

„Ich hab' mich so geniert.

Aber ich hab's nicht mehr ausgehalten. Das war der Horror, der reine Horror.“ Das, was war, könne er nicht mehr rückgängig machen, aber vielleicht würden andere Jugendliche in ähnlicher Situation sehen, daß es die einzige Möglichkeit ist, sich den Eltern oder einem Lehrer anzuvertrauen. Nur so könne

einem solchen Treiben ein Ende

bereitet werden.

Ihm gehe das alles immer noch nach. Jetzt vor allem, wenn er höre, daß der Mann weitergemacht habe. Aber trotzdem – er selbst habe es einigermaßen weggesteckt. Aber Marcos Mutter meint nachdenklich, ein bißchen fühle sie sich fast mitschuldig, daß das in Memmingerberg nun erneut passiert sei. „Ja, wir haben damals bei der Verhandlung gesagt, wir sind einverstanden mit einer Bewährungsstrafe, wenn der sich in psychotherapeutische Behandlung begibt.“ Ihr Mann nickt. „Wir wollten dem ja nicht alles verbauen, dachten auch, wie der so lammfromm im Gericht saß, daß der geheilt ist.

Daß der so was nie mehr macht.“

Andererseits, wenn sie anders reagiert hätten und der sich vielleicht in seiner Zelle aufgehängt hätte... Man kannte ja diesen Studenten und seine Eltern. Wie hätten sie denn wissen können, daß der so krankhaft pädophil ist. Aber jetzt, nach allem, was war, gehöre der in eine geschlossene Anstalt. Marco sagt, lebenslang müsse der

hinter Gitter.

Auf die Leute dürfe man so einen nicht mehr loslassen. Was der alles kaputtgemacht habe. Und dann auch noch diese perversen Kinderpornos.

In Memmingerberg machen sich derweil viele Eltern Gedanken darüber, ob ihr eigenes Kind auch mißbraucht und vielleicht auch noch dabei fotografiert wurde. Und ob sich womöglich auch ihr Sohn

aus Angst oder Scham

nicht traut, darüber zu sprechen.